Veröffentlichungen

Demonstrieren auf der Straße ist möglich – trotz Corona

„Revolutionäre 1. Mai-Demo“ 2020 in Stuttgart, ca. 12.00 – 14.15

Ein Zusammenschluss mehrerer Gruppen hatte eine Demo unter obigem Namen angemeldet und einen Ablauf abgesprochen, der der Coronaverordnung des Landes entsprach. Man hatte urspr. mit 500 Teilnehmenden, dann nur noch mit 200 gerechnet. Gekommen waren dann doch mehr; noch beim Demozug dürften über 400 Menschen mitgezogen sein.
Während der Kundgebung auf dem Marktplatz standen die Teilnehmenden locker in Abständen, die durch Kreidekreuze auf dem Pflaster markiert waren, beim Demozug ging man (weitgehend) in Viererreihen, seitlich wurde je eine lange Kordel bzw. ein Plastik-Flatterband getragen, mit deren Hilfe der Abstand zwischen den Reihen eingehalten werden konnte.
Die Polizei hatte sich für alles vorbereitet. 10 – 20 Fahrzeuge, inkl. Lautsprecherwagen, Pferdestaffel und mit Beinschienen ausgerüstete Trupps standen bereit, Helm unterm Arm. Auch – nicht unbedingt selbstverständlich – das Antikonfliktteam war mit mindestens 6 Personen dabei.
Die Kundgebung auf dem Stuttgarter Marktplatz verlief wie vorgesehen. Die Veranstalter wiesen mehrfach auf die Auflagen wegen Ansteckungsgefahr hin und sorgten soweit wie möglich für deren Einhaltung wie geplant. Dies galt auch für die Aufstellung des Demozugs und dessen Verlauf. Die Polizei kontrollierte die Maßnahmen ohne Pedanterie; sie zog mit einem größeren Trupp der oben beschriebenen Beamt*innen voraus, verzichtete auf seitliche Begleitung und Filmen, mit einer Ausnahme: Von der Paulinenbrücke aus wurde der auf der Tübinger Straße darunter vorbeiziehende Demozug beobachtet und fotografiert. Eben dort wurde auch ein großes, rosa „Bengalo“ gezündet, später auf dem Marienplatz stiegen einige Silvesterraketen in den noch hellen Mainachmittag auf. Auf beides reagierte die Polizei nicht (jedenfalls nicht unmittelbar), es blieben gegen Ende der Veranstaltung auf dem Marienplatz an den Ecken noch Polizeitrupps stehen. Laut Durchsage der Veranstalter warnte die Polizei, sie werde größere Gruppen abziehender Demo-Teilnehmer*innen kontrollieren. Diese vermieden dann größere Gruppen und alle, Demonstrierende, berittene und andere Polizei und Antikonfliktteam verließen nach und nach den Veranstaltungsort.
Auch die Polizei berichtete lt. Medien (Tag24 und Stuttgarter Zeitung) von keinen Zwischenfällen.

Eine Demonstration auf der Straße ist also auch in Corona-Zeiten möglich. Anscheinend bestand hinreichend wenig Misstrauen auf beiden Seiten, so dass keine Seite im Verhalten der anderen Provokationen sah. Das war wohl nicht überall in Deutschland so.

 

Pressemitteilung: Demonstrationsbeobachtungsgruppen koordinieren bundesweit rechtliche Schritte gegen Behinderung ihrer Arbeit

Mit insgesamt fünf Klagen zu vier Geschehnissen gehen Demonstrations- und Polizeibeobachtungsgruppen aktuell gegen die zunehmende Behinderung ihrer Arbeit durch Polizeieinsatzkräfte vor.
Verwaltungsgerichtliche Klageverfahren wurden vor den Verwaltungsgerichten in Stuttgart, Karlsruhe, Göttingen und Kassel erhoben.
Die fünf Klägerinnen und Kläger im Alter von 32 bis 76 Jahren machen geltend, im Zusammenhang mit der Beobachtung von verschiedenen Polizeieinsätzen in ihrer Arbeit behindert worden zu sein.
Ein Demobeobachter der Gruppe „Demobeobachtung Südwest“ filmte am 11.05.2019 in Pforzheim Rangeleien und Schlagstockeinsätze durch Bundespolizisten gegen eingekesselte Demonstrationsteilnehmer.
Mit der Behauptung, dass es sich nicht um Demonstrationsteilnehmer sondern um Straftäter handele, unterbanden die Polizeieinsatzkräfte das Filmen, nahmen die Personalien des Beobachters auf und erteilten ihm einen Platzverweis.
Am 24.05.2019 verfügten Polizeibeamte der Göttinger Polizeidirektion eine Personalienfeststellung gegenüber einer Beobachterin der Göttinger Gruppe „Bürgerinnen und Bürger beobachten Polizei und Justiz“. Die 32-jährige hatte polizeiliche Maßnahmen gegenüber Teilnehmern einer fridays for future-Demonstration in Göttingen dokumentiert. Zwei weitere Kläger der Gruppe „Demobeobachtung Südwest“ waren nur einen Tag später, am 25.05.2019 trotz ihrer Kennzeichnung als Demonstrationsbeobachter durch die Einsatzkräfte in Stuttgart nach einer Versammlung zu Versammlungsteilnehmern erklärt, festgehalten, fotografiert und ihre Daten in Polizeidatenbanken gespeichert worden. Am 20.07.2019 dokumentierte ein Mitglied der Göttinger Gruppe „Bürgerinnen und Bürger beobachten Polizei und Justiz“ polizeiliche Maßnahmen gegenüber Demonstrierenden vor dem Gebäude des Polizeipräsidiums Nordhessen in Kassel.
Unter Androhung der Beschlagnahme der Kamera wurde der 53-jährige Polizeibeobachter gezwungen, die Dokumentation zu beenden und seine Personalien an die Beamten herauszugeben.
Mit Beschluss vom 25.07.2015 hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) unter dem Az. 1 BvR 2501/13 die Rechte der unabhängigen Demonstrations- und Polizeibeobachtung gestärkt. Hiernach besteht das Recht, frei von staatlichen Eingriffen wie Personalienfeststellungen oder Platzverweisen das Verhalten von Polizeikräften im Zusammenhang mit Versammlungen zu beobachten und ggf. Beweise für Fehlverhalten von Polizeibeamten auch in Bild und Ton zu dokumentieren.
Im November letzten Jahres trafen sich Polizei- und Demobeobachtungsgruppen aus Berlin, Baden-Württemberg, Niedersachsen und NRW zu einem bundesweiten Vernetzungstreffen. Sie weisen entschieden die stetigen Zunahmen der Einschränkungen ihrer wichtigen Arbeit zurück.
Ihre Arbeit sei für einen Rechtsstaat unerlässlich, da unrechtmäßiges Polizeihandeln regelmäßig nur durch Vorlegen von Filmaufnahmen gerichtlich verfolgt und aufgeklärt wird.
„Die beklagten Maßnahmen sind nur Beispiele für eine zunehmende Praxis von Polizeieinsatzkräften, in Widerspruch zu der Entscheidung des BVerfG unser Recht auf eine unabhängige Beobachtung zu beschränken“ kritisiert Roland Laich von der Gruppe „Bürgerinnen und Bürger beobachten Polizei und Justiz“, der die Entscheidung des BVerfG vom 25.07.2015 erstritten hatte, die aktuelle Entwicklung.
Zuletzt hatte auch das Landgericht Kassel mit Beschluss 23.09.2019 (Az.: 2 Qs 111/19) eine Personalienfeststellung für rechtswidrig erklärt, die mit der absurden polizeilichen Begründung erfolgte, die Dokumentation polizeilicher Maßnahmen wäre die Aufzeichnung des vertraulich gesprochenen Wortes und damit eine Straftat nach § 201 StGB. „Offenbar muss der Polizei die Bedeutung der Verfassungsgerichtsentscheidung durch weitere Gerichtsentscheidungen verdeutlicht werden“ so Laich weiter zu dem Grund der weiteren Klageerhebungen.
Kurze Zusammenfassungen der streitigen polizeilichen Maßnahmen befinden sich in der Anlage zu dieser Mitteilung.
Für Rückfragen stehen die Rechtsanwälte Sven Adam, Nils Spörkel und Rasmus Kahlen zur Verfügung, die mit der Klageerhebung beauftragt wurden. Diese können auch Kontakt zu den Klägerinnen und Klägern vermitteln.

Stellungnahme zur Novellierung des Polizeigesetzes

Die Folgende Stellungnahme wurde am 22.4. via Email an die unten gelisteten Adressaten geschickt.

 

An: – Staatsministerium poststelle@stm.bwl.de

 

– Innenministerium poststelle@im.bwl.de

– Fraktionen im LT:

post@gruene.landtag-bw.de

post@cdu.landtag-bw.de

post@fdp.landtag-bw.de

post@spd.landtag-bw.de

22.4.2020

Stellungnahme zur Novellierung des Polizeigesetzes

Bezug: Online-Zeitschrift „IMI-List“ , Nummer 0565, 23. Jahrgang

vgl.: http://www.imi-online.de/2020/04/14/baden-wuerttemberg-verschaerfung-des-polizeigesetzes-waehrend-corona-krise/

 

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann,

sehr geehrter Herr Minister Strobl,

sehr geehrte Damen und Herren,

Wir teilen die Kritik der Informationsstelle Militarisierung (IMI Tübingen) an der Novellierung des baden-württembergischen Polizeigesetzes im Wesentlichen.

Das Vorgehen, diese schon 2019 geplante Verschärfung des Polizeirechts während der „Corona“-Krise umzusetzen, erweckt das ungute Gefühl, dass die Krise mit ihren Einschränkungen von Grundrechten und Öffentlichkeit dazu benutzt wird, Demokratieabbau zu betreiben. Gute Gründe Corona-spezifische Einschränkungen von Freiheitsrechten nicht ausschließlich auf die Pandemie-Zeit zu begrenzen sind für uns leider nicht ersichtlich. Angriffe von Rechts auf die Demokratie sind aber nicht durch ihre Einschränkung zu bekämpfen, bzw. Vermutungen über Missbrauch oder gar Übertreibung der Pandemie sind nicht so zu bekämpfen, sondern nur durch Stärkung der Demokratie. Diese beginnt mit Stärkung der Grundrechte.

Wir möchten besonders hervorheben, welche Befürchtungen entstehen müssen, wenn die Möglichkeiten von Durchsuchungen von Personen und Sachen in und am Rande von Versammlungen (offenbar keineswegs nur bei Großveranstaltungen) so wie geplant erweitert werden. Beispielsweise bei Fußballfans werden sie blanke Wut auslösen. Denn schon bisher empfinden Fans die „Begleitung“ durch die Polizei großenteils als schikanös.

Durch sehr allgemeine, nirgends definierte Rechtsbegriffe wie „Gefährdungsrisiko“ entsteht ein weiter Ermessens-, ja Willkürspielraum zugunsten der Polizei; sie ist bekanntlich nicht bereit, im konkreten Fall über die Berechtigung ihres Ermessens zu diskutieren. Da außerdem die Einschränkung auf „Großveranstaltungen“ z.T. fehlt, werden Gruppen, die sich von der Polizei eher als Gegner denn als ihre Grundrechte praktizierende Bürger und Bewohner behandelt fühlen, sich eher in einem repressiven Staat als in einer liberalen Demokratie fühlen. Das dürfte z.B. für Kurden gelten, denen von der Polizei bereits öfter von vornherein Gewaltbereitschaft zugeschrieben wurde (siehe z.B. https://demobeobachtung-suedwest.de/blog/2019/06/14/demo-solidaritaet-mit-den-hungerstreikenden-in-stuttgart-am-25-5-2019/ ).

Wenn die Art des Zusammenhangs mit der Versammlung für die Frage der Durchsuchung keine Rolle spielen soll, wird jeder Mensch, der stehen bleibt und sehen möchte, was geschieht, mit polizeilichen Maßnahmen rechnen müssen, v.a. der Aufnahme von Personalien, über deren Verwendung er keine Kontrolle mehr hat. Erst recht trifft das zu auf Menschen, die regelmäßig, aus ihrem Engagement für die Grundrechte heraus, Demonstrationsgeschehen beobachten. Diese machen bundesweit häufig die Erfahrung, dass sie – unseres Erachtens: rechtswidrig – in ihrem Engagement für Demokratie behindert werden.

Wir benutzen bewusst nicht die Beteiligungsplattform des Innenministeriums. Diese Form der Beteiligung erscheint uns viel zu dürftig.

Wir fordern alle, den Ministerpräsidenten, die beteiligten Ministerien, die Regierungsfraktionen und die Fraktion der SPD, dazu auf, den Verabschiedungsprozess dieser Gesetzesnovelle, für die wir nicht die geringste Eilbedürftigkeit sehen, abzubrechen. Sofern Freiheitsrechte pandemiebedingt eingeschränkt werden müssen, muss dies auch auf den Pandemiezeitraum begrenzt sein! Das Polizeigesetz braucht eine breite öffentliche Debatte, inkl. von Versammlungen und Demonstrationen. Erst wenn diese wieder möglich ist, kann – und muss – über das Polizeirecht und sein Verhältnis zu den Grundrechten gesprochen werden.

Mit freundlichen Grüßen

Für Demobeobachtung Südwest

Konrad Nestle

Tachenbergstr. 17 70499 Stuttgart

 

Demonstration gegen die Verschärfung des baden-württembergischen Polizeigesetzes

Vorbemerkung

Eine Verschärfung der Polizeigesetze fand und findet in vielen Bundesländern statt. In Baden-Württemberg wurde das Polizeigesetz zuletzt 2017 verschärft. Wir von Demobeobachtung Südwest stehen dem Thema dieser Proteste näher als bei anderen von uns beobachteten Demonstrationen: Auch wir sehen hier eine rechtliche Entwicklung, die u.a. die Wahrnehmung von Grundrechten nach Art. 8 GG in gefährlichem Ausmaß bedroht. Wir berichten genauso objektiv wie sonst, was wir gesehen und gehört haben.

Demonstration gegen die Verschärfung des baden-württembergischen Polizeigesetzes

in Stuttgart am Samstag, 13. 07. 2019, ca. 12.00 – ca. 15.00

Bei der Schlusskundgebung auf dem Schillerplatz in Stuttgart kam es – nach einer bis dahin störungsfrei verlaufenen Demonstration – zu einem starken Polizeieinsatz von ca. 100 behelmten Polizist*innen.

In den Tagen vor der Demonstration wurde zwischen Stadt und Veranstaltern um die Demoroute gerungen. Die letztlich durchgeführte Route konnte nur unter Androhung einer Klage durchgesetzt werden.
Die Demonstration begann um 12:55 nach Auftaktreden in der Lautenschlagerstraße. Die Demonstrant*innen aus vielen Gruppierungen (u.a. Fußballfans) waren zum Protest gegen Überwachung, Polizeibewaffnung zusammengekommen. Polizei war unsichtbar – außer den motorisierten Absperrungen an den Seitenstraßen und außer einiger Dreiergruppen des Antikonflikt-Teams.
Polizeiliches Filmen konnte nicht beobachtet werden. Es gab trotz einiger Rauchkörper u.ä. von jugendlichen Demonstrant*innen keine Beeinträchtigung durch die Polizei. Während der Zwischenkundgebung am Wilhelmsbau löste sich eine kleine Gruppe Demonstrant*innen zu einem Flash Mob heraus, um vor dem GRÜNEN-Büro in der Marienstraße auf deren Mitverantwortung für das Polizeigesetz aufmerksam zu machen. Dabei kam es zu heftigen verbalen Angriffen auf einen Vertreter der GRÜNEN, der an die Tür gekommen war. Ob diese aus der Mitte des kleinen Gruppe von Demonstrant*innen kam, erscheint eher zweifelhaft.
Gegen Ende der Demoroute musste die Polizei wegen eines Hindernisses die Route ändern – akzeptiert, ohne Widerstand seitens der Demonstration.
So fand in Stuttgart ein gut geleiteter, friedlicher Protest auf der Straße statt. Auch die Nähe zu anderen Veranstaltungen, besonders auf dem Marktplatz, erwies sich, anders als von der Stadt bzw. der Polizei befürchtet, als vollkommen unproblematisch. Die samstäglichen Passanten am Rand des Demonstrationszuges konnte man aufmerksam die verteilten Info-Papiere lesen sehen – so soll es sein. Einige Mitbürger*innen am Rand machten Bemerkungen, die ihre haarsträubende Unkenntnis der politischen Verhältnisse kundtaten. Auch deshalb sind Demonstrationen notwendig.
Das Justizministerium, der sog. Prinzenbau an der nordwestlichen Seite des Schillerplatzes, errichtet nach einem Entwurf von Heinrich Schickardt, war Bezugspunkt der Demo. Nachdem die Demonstrant*innen um kurz nach 14:00 den Platz gefüllt hatten, der Lautsprecherwagen in Position vor dem Fruchtkasten stand, versuchte eine Gruppe von Demonstrant*innen anscheinend ihr Großtransparent direkt vor dem Portal des Landesjustizministeriums aufzustellen. Ca. 15 Polizist*innen, die den Eingang des Ministeriums bewachten, hinderte die Gruppe in heftigem Abdrängen, was sich als Druck auf die daneben stehenden Demonstrant*innen auswirkte, so dass ein größerer Gegendruck gegen die abwehrende Polizei entstand – das ‚Gerangel‘ setzte sich mehrere Male fort. Von rechts, aus der Stiftstraße, und von links, aus dem Torbogen vom Schlossplatz her, wurde die Polizei verstärkt; es bildete sich eine Polizeikette über die gesamte Länge des Justizministeriums. Es wurde nun auch gefilmt. Nun drängten weitere Polizist*innen (ca. 25 – 30), aus dem Tordurchlass vom Schlossplatz her kommend, sich mitten in die Demonstration und bildeten eine Kette von der Ecke des Ministeriums bis nahe an das Schillerdenkmal und den Lautsprecherwagen; dazwischen blieb ein schmaler Durchgang frei. Die Demonstrierenden mussten das als Vorbereitung für eine Einkesselung verstehen, protestierten lautstark und wollten sich nicht wegdrängen lassen. Auch vom Lautsprecherwagen wurde die Polizei aufgefordert, die Durchführung der Schlusskundgebung nicht länger zu stören und den Platz zu verlassen. Tatsächlich zog sie sich wieder durch den Toreingang zurück – zu den Mannschaftswagen, die mit BFE markiert waren. Eingekeilt zwischen um die 1000 Demonstrant*innen hätte eine Einkesselung zu dem geführt, was dann beschönigend ein „robuster Einsatz“ genannt wird. So kam es weder zu Schlagstock- noch Pfeffersprayeinsatz.

Ob tatsächlich eine Flasche und 3 Farbbeutel (von denen dann keiner platzte) auf Polizisten geworfen wurden (so die Polizei lt. StZ am 13.7.) oder ob Polizisten bedroht worden sind (Polizei lt. swr vom 13.7.), wissen wir nicht; vom Standpunkt unserer Beobachter aus (näher am Schillerdenkmal als an der Wand des Ministeriums) war nichts Derartiges zu erkennen. Ob also höherwertige Rechtsgüter geschützt werden mussten und geschützt wurden („Situation geklärt“ so lt. StZ), die den massiven Eingriff in den Kundgebungsverlauf rechtfertigen konnten, bleibt also offen.

PM 1/19: Mannheimer Fridays-For-Future Bußgelder widersprechen Kinderrechtskonvention

Die Bürgerrechtsorganisation „Demobeobachtung Südwest“ sieht die Sanktionen gegen die Eltern von Friday-For-Future-TeilnehmerInnen als Verstoß gegen Artikel 15 der UN-Kinderrechtskonvention, die Deutschland ratifiziert hat und hofft auf gerichtliche Klärung.

Weil ihre Kinder durch die Teilnahme an einer Fridays-For-Future-Versammlung in Mannheim zwei Unterrichtsstunden versäumt haben, hat deren Schule ihren Eltern Bußgeldbescheide über 88.50 Euro ausgestellt. Das Regierungspräsidium Karlsruhe spricht von einer eindeutigen Rechtslage. Dem widerspricht Nero Grünen, Mitbegründer der Bürgerrechtsorganisation Demobeobachtung Südwest.

„Das Recht auf Versammlungsfreiheit für Kinder ist als Artikel 15 Teil der UN-Kinderrechtskonvention“, so Grünen, „Die Schulpflicht kann dieses Kinderrecht nicht verdrängen. Sie bezieht sich historisch auf die Pflicht der Eltern, ihre Kinder statt zur Arbeit zur Schule zu schicken und die Pflicht des Staats, geeignete Schulen kostenlos zur Verfügung zu stellen. Die Kinder hingegen haben ein Recht auf Bildung. Die Schulpflicht dient dem Schutz der Kinder, was hier ins Gegenteil verkehrt wird. Die Kinder können sich frei entscheiden, hier ihrem Recht auf Versammlungsfreiheit Vorrang zu geben. Eltern ein Bußgeld dafür zu erteilen, dass sie nicht versuchen ein Kinderrecht ihrer Kinder aktiv einzuschränken, ist absurd.“

„Ferner ergänzen sich hier Versammlungsfreiheit und Bildung eher, als dass sie konkurrieren, denn ein Besuch der Fridays-For-Future-Versammlungen ist förderlich für die staatsbürgerliche, politische und wissenschaftliche Bildung. Auch diese wichtigen Formen von Bildung müssten die Schulen und das Regierungspräsidium laut Artikel 28 und 29 der UN-Kinderrechtskonvention im Blick haben“, so Grünen weiter. „Eben weil Kinder beispielsweise von ihren Eltern oder der Schule oft fremdbestimmt sind und damit das Recht auf Versammlungsfreiheit Kindern oft erschwert wird, ist dieses Recht explizit als Kinderrecht aufgenommen worden. Wird die Versammlungsfreiheit ihnen nur zugestanden, wenn es den Eltern oder der Schule genehm ist, würde dieses wichtige demokratische Grundrecht für Kinder ausgehöhlt werden“, führt Grünen aus.

„Aufgrund der demographischen Schieflage und des Auswirkungen der Klimakrise auf ihr weiteres Leben sind möglicherweise weitere Kinderrechte berührt“, so Grünen abschließend, „namentlich Artikel 12, die Berücksichtigung des Kinderwillens, welcher sich bis jetzt in den politischen Entscheidungen kaum widerspiegelt, Artikel 17, dem Zugang zu Informationen, welche insbesondere durch die „Scientists for Future“ auf der Versammlungen verbreitet werden, und eben – ironischerweise – Artikel 28 und 29, welche eine qualitativ hochwertige und umfassende Bildung fordern.“

Grünen war Anfang Juli Teilnehmer eines Expertentisches zur Versammlungsfreiheit, welcher von der OSZE in Wien ausgerichtet wurde. Dort wurde auch am Rande über die Fridays-For-Future-Bewegung diskutiert. Einhellige Expertenmeinung war, dass die Kinder das Recht haben sich auch während der Schulzeit friedlich zu versammeln, insbesondere zu Anliegen die ihr Leben tiefgreifend betreffen, wie etwa der Klimakrise. Diese Meinung vertritt insbesondere Anita Danka, unabhängige Rechtsexpertin auf dem Gebiet der Menschenrechte und ehemalige leitende Beraterin für Versammlungsfreiheit bei OSZE/ODIHR (Senior Adviser on Freedom of Peaceful Assembly at OSCE/ODIHR), die auch bei dieser Pressemitteilung geholfen hat.

Versammlungsfreiheit in Deutschland und der Welt – Teil 1: OSZE-Demobeobachtung

Um den Stand der Versammlungsfreiheit in Deutschland beurteilen zu können, macht es Sinn den Blick zu weiten und sich international auszutauschen. Genau dies haben wir in den letzten vier Jahren betrieben und verarbeiten unsere Erfahrungen nun in einer Artikelserie, die hier mehr oder weniger wöchentlich erscheinen wird.

Von beiden großen übernationalen Organisationen, den Vereinten Nationen (UN) und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), gibt es Leitlinien zum Thema Versammlungsfreiheit. Diese Leitlinien (zu finden hier bzw. hier) gleichen sich sehr stark, weswegen wir nur die aktuellsten Empfehlungen der OSZE ins Deutsche übersetzt haben. Diese Empfehlungen werden ständig aktualisiert, gerade auch unter dem Eindruck des G20-Gipfels in Hamburg. Eine neue Version wird noch dieses Jahr erscheinen und wieder von uns übersetzt werden.

Um sich über die Situation in den verschiedenen Staaten auszutauschen, veranstaltet die OSZE, bzw. deren Unterorganisation ODIHR (Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte), zweijährlich runde Tische, an denen sich die Nichtregierungsorganisationen, die auf dem Gebiet der Versammlungsfreiheit tätig sind, austauschen. An diesem runden Tisch hat „Demobeobachtung Südwest“ bereits zweimal teilgenommen, beim letzten runden Tisch im Dezember 2018 zusammen mit „BürgerInnen beobachten Polizei und Justiz“ aus Göttingen.

Um Indikatoren für den Stand der Versammlungsfreiheit in den Mitgliedsländern zu erarbeiten hat das ODIHR einen ExpertInnenkreis einberufen, zu dem Demobeobachtung Südwest einen Gesandten schickt. Wir arbeiten dabei zusammen mit unseren Partnerorganisationen, insbesondere aus Göttingen und freiheitsfoo aus Hannover.

Mit unserer russischen Partnerorganisation „Moscow Helsinki group“ beginnen wir gerade eine Infrastruktur aufzubauen, um einen Index zur Versammlungsfreiheit, ähnlich dem Index zur Pressefreiheit, auf die Beine zu stellen.

Außer dem Voranbringen internationaler Projekte und besserer Vernetzung steht aber der inhaltliche Austausch im Vordergrund. Dabei hat sich immer wieder gezeigt, dass die gefestigten westeuropäischen Demokratien wie Deutschland, zwar häufig die versammlungsfreundlichere Gesetzgebung haben, dass aber Polizei und Ordnungsamt in der Praxis oft versammlungsfeindlicher gegenüber AnmelderInnen, VersammlungsleiterInnen, DemobeobachterInnen und VersammlungsteilnehmerInnen vorgehen, als beispielsweise in den jungen Demokratien Osteuropas. Insbesondere die Kritikfähigkeit des Polizeiapparats ist in Deutschland kaum vorhanden und es besteht kein auch nur ansatzweise adäquates, unabhängiges System, um Fälle von Polizeigewalt aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Laut ODIHR sind DemobeobachterInnen (assembly observers) elementar zum Schutz der Versammlungsfreiheit und zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit, sie sollten deshalb von Polizei und Ordnungsamt unterstützt und nicht behindert werden. Auch hier sind die Polizeien anderer Staaten deutlich weiter als die deutsche Polizei. Alleine dieses Jahr wurde unsere Arbeit schon zwei mal massiv behindert. Selbst höchstinstanzliche Urteile zu unseren Gunsten scheinen sich nur bedingt auf die Praxis auszuwirken.

Diese Artikelserie, die nach und nach auf unserer Website erscheinen wird, beschäftigt sich damit, wie es in Deutschland um die Versammlungsfreiheit bestellt ist, wenn man den internationalen Vergleich und internationale Empfehlungen bemüht.

Demobeobachtung durch ODIHR

Die OSZE unterstützt nicht nur lokale NGOs, sondern sie führt als einzige internationale Institution selbst Demobeobachtungen durch.

Allerdings hat die OSZE nur dann eine Rechtsgrundlage für Beobachtungsmissionen, wenn ein Ministerialbeschluss des entsprechenden Mitgliedslandes vorliegt. Sobald dieser Beschluss vorliegt und die Finanzierung geklärt ist, führt die OSZE entsprechende Trainings durch, bei denen auch das 2019 neu erschienene Handbuch der OSZE zu Demobeobachtung zum Einsatz kommt.

Über die Art und Weise, wie die BeobachterInnen der OSZE dabei vorgehen, hat die OSZE einen Clip erstellt, welcher in Wien Premiere feierte und welcher jetzt auf youtube veröffentlicht wurde: https://www.youtube.com/watch?v=6z9Og7XblkE

Die erklärte Herangehensweise deckt sich mit unserer eigenen. Vorurteilsfrei und objektiv zu beobachten, Beobachtungen und Schlussfolgerungen voneinander abzugrenzen und nicht in das Geschehen einzugreifen, sind die wohl wichtigsten Grundpfeiler einer Demobeobachtung.

Die OSZE-BeobachterInnen setzen ebenfalls auf Warnwesten, allerdings in gelb (was sich wegen der Gelbwestenbewegung in Frankreich ändern wird), mit der Aufschrift „Observer“, um von den TeilnehmerInnen der Versammlung abgrenzbar zu sein. Wie wir stoßen die OSZE-BeobachterInnen auf unterschiedliche Level von Akzeptanz und Kooperationsbereitschaft bei den eingesetzten PolizistInnen.

Genau wie bei uns liegt der Schwerpunkt der OSZE-Beobachtung auf den die Versammlung begleitenden Polizeieinsätzen und genau wie wir dokumentieren OSZE-BeobachterInnen auch Versammlungen, bei denen es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt. Hier liegt der Schwerpunkt der OSZE auf den eingesetzten Einsatzmitteln (z.B. Pfefferspray) und der Verhältnismäßigkeit.

Die deutsche Polizei geht unserer Erfahrung nach oft fälschlicherweise davon aus, dass eine Demonstration entweder insgesamt als friedlich oder als gewalttätig eingestuft werden kann und dass sobald ihrer Meinung nach Straftaten begangen worden sind, das Versammlungsrecht für alle TeilnehmerInnen verwirkt ist und auch wir DemobeobachterInnen abzuziehen hätten. Dies haben wir in Wien problematisiert und natürlich bestand der Konsens, dass man es sich so einfach nicht machen könne und das natürlich und gerade wenn es zu Konflikten und Gewalt kommt, Demobeobachtung sinnvoll und nötig ist.

Im zweiten Teil der Artikelserie wird es um „accountability“ gehen, also darum mit welchen Mechanismen einzelne PolizistInnen im Falle von Polizeigewalt und die Einsatzführung bei verwaltungsrechtswidrigen Einsätzen zur Rechenschaft gezogen werden können – ein Bereich in dem Deutschland im Vergleich besonders schlecht abschneidet.

Demo „Solidarität mit den Hungerstreikenden“ in Stuttgart am 25.5.2019

Vorwort

Die angekündigte Solidarität galt Streikenden Gefangenen in der Türkei, die sich für bessere Haftbedingungen insbesondere von Öcalan einsetzten. Der Hungerstreik wurde lt. Pressemeldungen kurz danach auf Bitten Öcalans beendet.

Demonstrationen mit großenteils kurdischen Teilnehmenden finden immer in einem besonderen Spannungsfeld statt. Hier wies der Versammlungsbescheid auf eine, wie die Polizei vermutete, ähnliche Demonstration am 11.3.2018 hin, bei der mit Fahnenstangen auf Polizisten eingeschlagen worden sei. Die so begründeten Auflagen gingen freilich kaum über das Übliche hinaus. Die damalige Demo protestierte gegen den Einmarsch der Türkei in Nordsyrien (Afrin). Es gibt ein 2-Minuten-Video auf YouTube, das tumultartige Szenen, aber keine Gewaltakte einer Seite zeigt, und das u.a. von Unterstützern der türkischen Regierung als richtiges Verhalten gegen die „PKK“ gelobt wird.

Die Stuttgarter Zeitung sah das gelassener und berichtete von 2 Festnahmen wegen 1 Flaschenwurf und 1 Beleidigung. Von verletzten Polizist*innen berichtet sie nicht.Die Polizei bzw. das Amt für öffentliche Ordnung erwarteten laut dem Versammlungsbescheid nun für den 25.5.2019

mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit … bei der jetzigen Versammlung … Straftaten.

Das müssen aber keine Gewalttaten sein, sondern – und darauf verweist der Versammlungsbescheid – können auch Parolen zur Unterstützung verbotener Organisationen wie der PKK oder der YPG sein. Mit diesen Verboten ist es aber nicht so einfach. Selbst wenn Organisationen nicht grundsätzlich verboten sind, aber

mittelbar einer verbotenen Organisation zugerechnet werden können,

seien sie verboten. Nur wenn ihre Kennzeichen eindeutig nicht im Zusammenhang mit der PKK stünden, seien sie zugelassen. Genaue Kriterien zur Abgrenzung dieser Fälle werden nicht angegeben, sind auch kaum möglich. So wird durch diesen Versammlungsbescheid ein Bereich der Unschärfe geschaffen, der Willkür begünstigt.

Demonstrationsverlauf

Die ca. 300 Teilnehmer*innen versammelten sich zu Beginn in der Lautenschlagerstraße. Obwohl die Polizei, wie im Versammlungsbescheid erwähnt, Gewaltbereitschaft erwartete, war kein „Antikonflikt-Team“ anwesend, dafür aber viele mit Bein- und weiterer Panzerung geschützte Einsatzkräfte. Der Demonstrationszug war vorn und hinten von Polizeieinsatzwagen flankiert und wurde augenscheinlich von Anfang an aus einem Fahrzeug heraus videografiert – zumindest war die Kamera auf die Versammlung gerichtet.

Nachdem der Demonstrationszug einige hundert Meter gelaufen war, wurde er (auf der Theodor-Heuss-Straße) eine Weile angehalten, weil verbotene Parolen gerufen worden seien.

Rückfrage der Demobeobachter bei Organisator*innen der Demonstration bezüglich der spezifischen Parolen schaffte brachte keine Klärung, da diesen auch nicht klar war um welche Parolen es sich handeln sollte. Falls sich das auf von uns wahrgenommene“YPG„- Rufe beziehen sollte, ist zu sagen: Immerhin ist die YPG Partner westlicher Truppen im Krieg gegen den IS. Ab diesem Zwischenstopp wurde die Demonstration dauerhaft von beiden Seiten mit mindestens 4 Handkameras gefilmt.

Mitunter wurden Seitenbanner nicht gemäß dem Versammlungsbescheid mit Abstand getragen und eine Zeit lang gab es ein über den Köpfen getragenes Banner, das aber nach einer Durchsage der Demonstrationsleitung entfernt wurde.

Sonst war der Demonstrationsverlauf einschließlich der Abschlusskundgebung und Auflösung der Versammlung kurz nach 16.00 am Stauffenbergplatz ereignislos und vollkommen friedlich. Danach jedoch begann die Polizei, Einzelne zwecks Personalienfeststellung aus den abziehenden Demonstrationsteilnehmer*innen herauszugreifen. Wir beobachteten einen ersten Fall am Alten Schloss.

Die Polizei duldete keine Zuschauer*innen und reagierte mitunter gereizt. Ein Polizist äußerte sich gegenüber einer Gruppe von Demonstrant*innen mit den Worten „Fass mich an und es knallt“. Man duldete wenig später weder Freunde noch Demobeobachter am Ort des Geschehens, auch nicht in einem Abstand weit außer Hörweite.

Es kam dann später mit einigem zeitlichen und räumlichen Abstand zu einem kleinen Kessel unter den Arkaden des Königsbaus an der Bolzstraße. Die Polizei gab bekannt, dass Menschen, die sich ausweisen könnten und wollten, den Kessel verlassen könnten. Die Maßnahme finde statt, weil gegen das Versammlungsgesetz verstoßen worden sei. Einer Demonstrantin, die meinte, ihren Ausweis nicht zeigen zu wollen, wurde mitgeteilt, man würde sie, wenn sie sich nicht ausweisen könne, mit auf die Polizeiwache nehmen. Auch wir Demobeobachter waren in diesen Kessel geraten und wurden wie alle andern nur nach Personalienfeststellung (Foto des Ausweises und Videografieren der Person von vorne und hinten) und Durchsuchen herausgelassen.

Einschätzung

Die Polizei schien, wie beschrieben, an Deeskalation nicht interessiert. Dauerndes Filmen ist nur dann rechtmäßig, wenn Straftaten geschehen oder erkennbar unmittelbar bevorstehen – dies war unserer Beobachtungen nach nicht der Fall. Das dauernde Filmen bei dieser Demo kriminalisierte also die Teilnehmenden von vornherein, wie es eben auch im Versammlungsbescheid ausgesprochen war. Einerseits verzichtete die Polizei darauf, während der Demonstration einzelne ihr Verdächtige aus dem Zug heraus festzunehmen, andererseits waren die nachfolgenden Maßnahmen zur „Personalienfeststellung“ höchst problematisch. Für Beobachter*innen, Freund*innen und wohl auch die Betroffenen selbst war nicht erkennbar, welcher Straftat sie verdächtigt wurden. Obwohl diese Personalienfeststellungen nicht mehr während der Versammlung stattfanden, mussten sie stark abschreckend wirken: Wer mag unter solchen Umständen ohne Bedenken sein Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wahrnehmen? Angesichts der völlig gewaltfreien Demonstration waren sie deutlich unverhältnismäßig. Dass diese Maßnahmen bewusst auch auf Demobeobachter ausgedehnt wurden, erweckt den Eindruck, dass der Polizei Zeugen lästig sind. Das darf in einer Demokratie nicht sein.

Demo „Solidarität mit den Hungerstreikenden“ in Stuttgart am 25.5.2019 – Kurzbericht

Die ca. 300 TeilnehmerInnen versammelten sich zu Beginn in der Lautenschlagerstraße. Obwohl die Polizei (lt. Auflagenbescheid) Gewaltbereitschaft erwartete, war kein „Antikonflikt-Team“ anwesend, dafür aber diverse mit Beinpanzern geschützte Einsatzkräfte. Der Demonstrationszug wurde augenscheinlich von Anfang an aus einem Fahrzeug heraus videografiert. Er wurde (auf der Theodor-Heuss-Straße) eine Weile angehalten, weil verbotene Parolen gerufen worden seien. Falls sich das auf „YPG“- Rufe beziehen sollte, ist zu sagen: Immerhin ist die YPG Partner westlicher Truppen im Krieg gegen den IS. Ab diesem Zwischenstopp wurde die Demonstration dauerhaft von mehreren Seiten mit mindestens 4 Handkameras gefilmt. Mitunter wurden Seitenbanner nicht gemäß dem Auflagenbescheid mit Abstand getragen und eine Zeit lang gab es ein Kopfbanner, welches aber nach einer Durchsage der Demonstrationsleitung entfernt wurde.

Dies waren die einzig durch uns beobachteten, beanstandbaren Vorfälle. Der Demonstrationsverlauf einschließlich der Abschlusskundgebung und Auflösung der Versammlung am Stauffenbergplatz war vollkommen friedlich. Danach jedoch begann die Polizei, Einzelne zwecks Personalienfeststellung aus den abziehenden DemonstrationsteilnehmerInnen herauszugreifen. Es kam zu einem kleinen Kessel unter den Arkaden des Königsbaus an der Bolzstraße. Die Polizei gab bekannt, dass Menschen, die sich ausweisen könnten und wollten, den Kessel verlassen könnten. Die Maßnahme finde statt, weil gegen das Versammlungsgesetz verstoßen worden sei. Auch wir Demobeobachter gerieten in diesen Kessel und wurden wie alle andern nur nach Personalienfeststellung (Foto des Ausweises und Videografieren der Person von vorne und hinten) und Durchsuchen herausgelassen.

Die Polizei schien an Deeskalation nicht interessiert, die Maßnahmen (Kessel, Personalienfeststellung/Durchsuchung), obwohl formal nicht mehr während der Versammlung, wirkten unverhältnismäßig und abschreckend hinsichtlich der Bereitschaft, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wahrzunehmen.

Ein ausführlicherer Bericht folgt.

Ein Prozess als Strafe – Fortsetzung

Ordnungshaft statt Wahrheitsfindung

Der 2. Prozesstermin endete mit Tumult, Saalräumung und Ordnungshaft für die Angeklagte. Zur Aufklärung des Sachverhalts, nämlich was die Angeklagte am 16.11.2017 tat und ob dieses Tun rechtswidrig war, trug die Verhandlung rein gar nichts bei.

Es geht um die Fortsetzung des am 28.3. vertagten Prozesses am Amtsgericht Heilbronn am 11.4.19 (ab 12.30).
Die äußeren Umstände waren wie beim ersten Termin: Genaue Taschenkontrolle und Abtasten. Wieder 6 Justizbeamt*innen im Raum bei weniger als 20 Besuchern. Wieder kein*e Protokollant*in.
Die Verhandlung drehte sich zunächst wieder um Ablehnungsbescheide des Richters gegen Anträge der Angeklagten auf Zulassung eines Verteidigers (auch eine neu beantragte Zulassung von Hanna Poddig, an anderen Gerichten durchaus zugelassen, war abgewiesen worden) und zur Befangenheit des Richters. Wieder war dann die Angeklagte ohne Rechtsbeistand, nach längerer Auseinandersetzung durfte eine betreuende Begleitperson neben ihr sitzen. Ein anderer Begleiter wurde des Saales verwiesen, weil der Richter dessen Mimik als kritisch empfand.

Die Angeklagte erhielt Gelegenheit, zu den Zeugenaussagen der vorigen Sitzung Stellung zu nehmen. Sie legte dar, dass die demonstrierenden Schwimmer*innen sich Ufernähe befunden hätten, dass mehrere die gleichen Neoprenanzüge mit den gleichen Streifen getragen hätten, also die Angeklagte auf Fotos nicht sicher zu identifizieren sei, dass der Neckar zur fraglichen Zeit für den sonstigen Schiffsverkehr gesperrt gewesen sei, die Schwimmer*innen also keine Gefahr für andere bedeutet hätten. Der Transport sei an ihnen vorbeigefahren, als sie noch im Wasser waren. Sie wiederholte, dass Demo-Auflagen als das mildere Mittel gegenüber einer Versammlungsauflösung leicht möglich gewesen wären und dass die Auflösungsverfügung selbst unnötig gewesen sei, da die Versammlung sich nach Passieren des Castortransports sowieso aufgelöst hätte.
Die Angeklagte stellte eine Reihe von Beweisanträgen und verlangte die Ladung von Zeugen, um diese Sachverhalte zu belegen. Sie verwies auf Urteile, die zeigen, dass an eine Versammlungsauflösung hohe Anforderungen zu stellen sind. In ihrem Fall sei sie rechtswidrig gewesen, also auch der darauf beruhende Bußgeldbescheid.
Sie verlangte ferner die Ladung weiterer Zeugen und Akten, die zeigen würden, dass die Angeklagte misshandelt wurde, als sie zur Personalienfeststellung gebracht wurde.
Außerdem stellte sie mehrere Anträge mit dem Ziel, vor Gericht darzulegen, dass der fragliche Castortransport und Atomenergie allgemein eine Gefahr für die Bevölkerung darstellten. Sie hätten die Ladung vieler weiterer Zeugen bedeutet, u.a. die eines Tepco Managers oder der Bundeskanzlerin (als ehemalige Umweltministerin); der Umfang der Anträge umfasste so insgesamt mehrere Dutzend Seiten.
Nach einer ca. 25-minütigen Pause erklärte der Richter, er sei von der Glaubwürdigkeit der am 1. Verhandlungstermin gehörten Zeugen überzeugt. Er lehnte alle Anträge summarisch ab, da sie nur der Prozessverschleppung dienten. Sicher hatte auch die Angeklagte nicht damit gerechnet, dass der Prozess ausgesetzt würde, bis ein Zeuge aus Japan geladen werden könnte. Die Mischung von Anträgen, die sich auf die Gefahren der Atomkraft bezogen, mit solchen, die das Geschehen am Neckar am 16.11.2017 klären sollten, erleichterte es dem Richter, die entscheidende Frage der Rechtmäßigkeit der Versammlungsauflösung und damit des umstrittenen Bußgeldbescheids zu ignorieren.
Mit der Ablehnung der Anträge erklärte er, die Beweisaufnahme sei somit geschlossen. Die Angeklagte protestierte, verlangte eine Pause um ihren Antrag zur Wiedereröffnung der Beweisaufnahme zu formulieren, dies wurde abgelehnt. Der Richter erteilte der Angeklagten das Wort für ihre abschließende Stellungnahme.
Auf ihren fortgesetzten Protest reagierte er mit einer Ordnungsstrafe von 300 €. Nach kurzer Pause forderte er die Angeklagte erneut auf, die Gelegenheit zum letzten Wort zu nutzen. Sie entgegnete mit Vorwürfen wegen der Verhandlungsführung und verlangte eine 30-minütige Pause zur Vorbereitung ihres Plädoyers. Dies wurde ihr verweigert, worauf sie erregt protestierte, der Richter ignoriere ihre gesundheitliche Beeinträchtigungen, und dabei derb formulierte. Darauf schloss der Richter sie von der Verhandlung aus, verließ den Raum, die Angeklagte sandte ihm ein „Kikeriki“ hinterher, darauf kehrte der Richter zurück und ordnete sofort zu vollziehende Ordnungshaft (3 Tage) an. Im Publikum hatte sich Protest erhoben, der Richter verwies zunächst Einzelne des Raumes, es wurde dann aber einfach der Saal geräumt, die Polizei zwang alle Besucher und Prozessbeteiligte kurz darauf, auch das Gebäude zu verlassen. Ein Prozessbesucher versuchte die Szene vor dem Amtsgericht zu fotografieren, wurde sofort von 2 Beamten um den Hals gepackt und sein Handy wurde ihm weggenommen. Er protestierte – und hatte nach einiger Zeit Erfolg.
Die Angeklagte war inzwischen, von ihren Betreuern getrennt, ins Polizeipräsidium gebracht worden. Sie solle ins Gefängniskrankenhaus Hohenasperg gebracht werden, hieß es, das erschien dann unsicher (kein Platz dort?) Noch eine Stunde später war unklar, was mit ihr geschehen sollte.
Wann und vor welcher Öffentlichkeit ein Urteil verkündet wird, blieb ebenso offen. Die „Heilbronner Stimme“ berichtet, der Richter habe die Geldbuße in seinem Urteil von 150 auf 100 Euro reduziert. Dies sei durch den Gerichtssprecher Thomas Abt mitgeteilt worden (https://www.stimme.de/heilbronn/nachrichten/region/Richter-verhaengt-Ordnungshaft-gegen-Umweltaktivistin;art140897,4181056). Von einer öffentlichen Urteilsverkündung ist nichts bekannt (nach StPO § 268 kann dies auch später geschehen).

Die Eskalation der Situation im Gerichtssaal war spätestens mit der Erklärung, dass die Beweisaufnahme abgeschlossen sei, absehbar – und der Richter hatte für die Situation der Räumung mit den erwähnten 6 Beamt*innen im Raum vorgesorgt. Seine übergroße Empfindlichkeit gegen noch die leisesten Andeutungen von Störungen war nicht geeignet, die Würde des Gerichts zu wahren. Eine Klärung von anhängigen Rechtsfragen im wichtigen Bereich des Versammlungsrechts, um dies in diesem Verfahren eigentlich hätte gehen sollen, kam nicht zustande.

Aktualisierung vom 10.5.2019: Zu diesem Prozess gab es am 8.5.2019 noch einen Bericht in der Kontext Wochenzeitung.

Unnötige Gewaltanwendung der Stuttgarter Polizei

Demo für „Menschenrecht auf Wohnen“ und gegen Wohnungsnot in Stuttgart am 6. April 2019

In Koordination mit anderen Städten fand am Samstag auch in Stuttgart eine Kundgebung mit Demonstrationszug eines breiten Bündnisses einschließlich von Parteien und Gewerkschaften statt. Einzelne Gruppen von Betroffenen wie Geflüchtete und Studenten waren mit eigenen Plakaten da. Im Demonstrationszug gab es auch einen „Besetzen“-Block .

Nach der Kundgebung mit vielerlei Wort- und Musikbeiträgen setzte sich der Demozug in Richtung Marienplatz über Charlotten-, Olga-, Katharinen-, Cotta- und Tübinger Straße in Bewegung. Er war beeindruckend groß, unsre Zählung ergab aber nur etwa 1500 Teilnehmer*innen.
Voraus fuhren eine Reihe von Polizeifahrzeugen, es folgten etwa zwei Dutzend Polizist*innen zu Fuß: Die Polizei schien sich auf Aktionen aus dem Demozug heraus eingestellt zu haben. Dann folgte der Demozug, angeführt von einem großen Lautsprecherwagen.
In der Katharinenstraße kam der Zug an Gebäuden von Vonovia und der GWG-Gruppe vorbei. Diese wurden durch einige Polizist*innen besonders geschützt. Einige kleine Farbbeutel flogen.
Der Zug zog in der Heusteigstraße an einigem auffälligen „Leerstand“ vorbei – nach übereinstimmenden Berichten versuchten einige Menschen Plakate an die Wände zu kleben, die Polizei verhinderte dies und setzte dabei Pfefferspray ein.
Ohne weitere Zwischenfälle verlief die Demonstration bis zum Marienplatz. Dort wurde die Demo beendet, verbunden mit dem Hinweis, dass (sinngemäß) der Stuttgarter Süden und Heslach ein lebendiger Teil der Stadt seien und zu weiterem Verweilen einlüden.

Plötzlich heulten Polizeisirenen, Polizeiautos und Motorräder fuhren schnell und mit Blaulicht in südlicher Richtung davon. Ein spontaner Demozug (ca. 120 Teilnehmer*innen) bildete sich am Anfang der Böblinger Straße. Dies ist auch der Weg zum Lilo-Herrmann-Zentrum, einem linken Hausprojekt mit Veranstaltungsräumen. Dass spontane Demonstrationen möglich sind, ist unstrittig. Meist sucht die Polizei dann eine*n Versammlungsleiter*in oder Ansprechpartner. Dies schien auch diesmal geschehen zu sein. Dennoch wurde dieser Demozug von einer starken Polizeikette in Höhe der Tannenstraße aufgehalten. Die Spitze des Zuges drängte gegen diese Kette, ohne Erfolg (und auch ohne Aussicht darauf). Darüber hinausgehende Handlungen, wie z.B. das Werfen von Flaschen o.ä., haben wir nicht beobachtet. Hier kam es erneut zu mehrfachem Einsatz von Pfefferspray. Die Böblinger Straße wurde auch auf der anderen (nördlichen) Seite durch eine Polizeikette gesperrt. Da dies unangekündigt gemacht wurde, fanden sich Passanten, z.T. mit Kindern, plötzlich zwischen Polizeiketten. Schließlich wurde die nördliche Sperre aufgehoben, der Demozug ging zurück Richtung Marienplatz und löste sich dort auf.
Später erfuhren wir zufällig, dass in der Böblinger Straße ein Gebäude von Hofbräu besetzt worden war. Dort fanden wir eine entspannte Atmosphäre, Menschen saßen an Biertischgarnituren, andere spielten Ballspiele. Das Gebäude stehe seit mehreren Jahren leer, hieß es. Es ist kein Wohnhaus, die Besetzung war dementsprechend nicht auf Dauer angelegt.

Politische Forderungen und Kampagnen für eine andere Wohnungsbaupolitik sind nicht neu. Dabei Aktive sehen eine Verschärfung der Wohnungsnot und doch kaum Änderungen in der Politik. Dass daraus der Wunsch entsteht, stärkeren Druck zu erzeugen, z.B. in Form von Hausbesetzungen, ist nicht überraschend, dass die Polizei das auftragsgemäß verhindern möchte, ebenso. Es geht um die Verhältnismäßigkeit der Mittel. Dass Pfefferspray das mildeste Mittel gewesen sein soll, um Plakatieren, also eine Sachbeschädigung überschaubarer Größe, zu verhindern, kann nicht sein.

Entsprechend bei der unangemeldeten Demo in der Böblinger Straße. Mit den dort eingesetzten Polizeikräften hätte man das Hofbräugebäude bequem gegen unbefugtes Betreten sichern können. Und selbst die Sperrung des Wegs für die Demo auf der Böblinger Straße, so sie denn nötig gewesen sein sollte, war ja schon ohne Einsatz von Pfefferspray erfolgreich. Der Pfeffersprayeinsatz mag vielen, die nicht in unmittelbarer Nähe waren, kaum aufgefallen sein, doch er war massiv: Demosanitäter zählten 51 Verletzte. Auch andere, so z.B. die Stuttgarter Zeitung sehen das kritisch. Dort ist auch (in der Print-Ausgabe) ein Foto von Beobachternews, das einen solchen Einsatz zeigt, abgedruckt.

Zur Bewertung dieses Einsatzes muss man die Einsatzregeln der Polizei bedenken. „Bestimmungsgemäßer Einsatz“ heißt: zurückhaltend, in Notwehr, bei Untauglichkeit schwächerer Mittel und gezielt nur gegen einzelne Personen. Die Regeln mögen in den Ländern leicht variieren, für die Bundespolizei gilt:

Nach § 1 i. V. m. § 2 Absatz 4 des Gesetzes über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes (UZwG) ist deren Gebrauch zulässig, wenn der Einsatz von körperlicher Gewalt und deren Hilfsmitteln keinen Erfolg versprechen und damit der Gebrauch von anderen Waffen (Hiebwaffen und Schusswaffen) vermieden werden kann. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist zu beachten.

Quelle: http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/17/053/1705345.pdf. Das ist: Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abg. Ströbele u.a. zu Polizeieinsätzen bei Protesten gegen Castortransporte, Bundestagsdrucksache 17/5345 Frage Nr. 22.

Möchte die Polizei wirklich behaupten, sie habe vor der Alternative „Schießen oder Sprühen“ gestanden?

 

Bilder

Auf der Planie vor Beginn der Demo
Kundgebung auf dem Schlossplatz
Vor GWG-Gebäude
Besetztes Hofbräugebäude
Böblinger Straße