Demo für „Menschenrecht auf Wohnen“ und gegen Wohnungsnot in Stuttgart am 6. April 2019
In Koordination mit anderen Städten fand am Samstag auch in Stuttgart eine Kundgebung mit Demonstrationszug eines breiten Bündnisses einschließlich von Parteien und Gewerkschaften statt. Einzelne Gruppen von Betroffenen wie Geflüchtete und Studenten waren mit eigenen Plakaten da. Im Demonstrationszug gab es auch einen „Besetzen“-Block .
Nach der Kundgebung mit vielerlei Wort- und Musikbeiträgen setzte sich der Demozug in Richtung Marienplatz über Charlotten-, Olga-, Katharinen-, Cotta- und Tübinger Straße in Bewegung. Er war beeindruckend groß, unsre Zählung ergab aber nur etwa 1500 Teilnehmer*innen.
Voraus fuhren eine Reihe von Polizeifahrzeugen, es folgten etwa zwei Dutzend Polizist*innen zu Fuß: Die Polizei schien sich auf Aktionen aus dem Demozug heraus eingestellt zu haben. Dann folgte der Demozug, angeführt von einem großen Lautsprecherwagen.
In der Katharinenstraße kam der Zug an Gebäuden von Vonovia und der GWG-Gruppe vorbei. Diese wurden durch einige Polizist*innen besonders geschützt. Einige kleine Farbbeutel flogen.
Der Zug zog in der Heusteigstraße an einigem auffälligen „Leerstand“ vorbei – nach übereinstimmenden Berichten versuchten einige Menschen Plakate an die Wände zu kleben, die Polizei verhinderte dies und setzte dabei Pfefferspray ein.
Ohne weitere Zwischenfälle verlief die Demonstration bis zum Marienplatz. Dort wurde die Demo beendet, verbunden mit dem Hinweis, dass (sinngemäß) der Stuttgarter Süden und Heslach ein lebendiger Teil der Stadt seien und zu weiterem Verweilen einlüden.
Plötzlich heulten Polizeisirenen, Polizeiautos und Motorräder fuhren schnell und mit Blaulicht in südlicher Richtung davon. Ein spontaner Demozug (ca. 120 Teilnehmer*innen) bildete sich am Anfang der Böblinger Straße. Dies ist auch der Weg zum Lilo-Herrmann-Zentrum, einem linken Hausprojekt mit Veranstaltungsräumen. Dass spontane Demonstrationen möglich sind, ist unstrittig. Meist sucht die Polizei dann eine*n Versammlungsleiter*in oder Ansprechpartner. Dies schien auch diesmal geschehen zu sein. Dennoch wurde dieser Demozug von einer starken Polizeikette in Höhe der Tannenstraße aufgehalten. Die Spitze des Zuges drängte gegen diese Kette, ohne Erfolg (und auch ohne Aussicht darauf). Darüber hinausgehende Handlungen, wie z.B. das Werfen von Flaschen o.ä., haben wir nicht beobachtet. Hier kam es erneut zu mehrfachem Einsatz von Pfefferspray. Die Böblinger Straße wurde auch auf der anderen (nördlichen) Seite durch eine Polizeikette gesperrt. Da dies unangekündigt gemacht wurde, fanden sich Passanten, z.T. mit Kindern, plötzlich zwischen Polizeiketten. Schließlich wurde die nördliche Sperre aufgehoben, der Demozug ging zurück Richtung Marienplatz und löste sich dort auf.
Später erfuhren wir zufällig, dass in der Böblinger Straße ein Gebäude von Hofbräu besetzt worden war. Dort fanden wir eine entspannte Atmosphäre, Menschen saßen an Biertischgarnituren, andere spielten Ballspiele. Das Gebäude stehe seit mehreren Jahren leer, hieß es. Es ist kein Wohnhaus, die Besetzung war dementsprechend nicht auf Dauer angelegt.
Politische Forderungen und Kampagnen für eine andere Wohnungsbaupolitik sind nicht neu. Dabei Aktive sehen eine Verschärfung der Wohnungsnot und doch kaum Änderungen in der Politik. Dass daraus der Wunsch entsteht, stärkeren Druck zu erzeugen, z.B. in Form von Hausbesetzungen, ist nicht überraschend, dass die Polizei das auftragsgemäß verhindern möchte, ebenso. Es geht um die Verhältnismäßigkeit der Mittel. Dass Pfefferspray das mildeste Mittel gewesen sein soll, um Plakatieren, also eine Sachbeschädigung überschaubarer Größe, zu verhindern, kann nicht sein.
Entsprechend bei der unangemeldeten Demo in der Böblinger Straße. Mit den dort eingesetzten Polizeikräften hätte man das Hofbräugebäude bequem gegen unbefugtes Betreten sichern können. Und selbst die Sperrung des Wegs für die Demo auf der Böblinger Straße, so sie denn nötig gewesen sein sollte, war ja schon ohne Einsatz von Pfefferspray erfolgreich. Der Pfeffersprayeinsatz mag vielen, die nicht in unmittelbarer Nähe waren, kaum aufgefallen sein, doch er war massiv: Demosanitäter zählten 51 Verletzte. Auch andere, so z.B. die Stuttgarter Zeitung sehen das kritisch. Dort ist auch (in der Print-Ausgabe) ein Foto von Beobachternews, das einen solchen Einsatz zeigt, abgedruckt.
Zur Bewertung dieses Einsatzes muss man die Einsatzregeln der Polizei bedenken. „Bestimmungsgemäßer Einsatz“ heißt: zurückhaltend, in Notwehr, bei Untauglichkeit schwächerer Mittel und gezielt nur gegen einzelne Personen. Die Regeln mögen in den Ländern leicht variieren, für die Bundespolizei gilt:
Nach § 1 i. V. m. § 2 Absatz 4 des Gesetzes über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes (UZwG) ist deren Gebrauch zulässig, wenn der Einsatz von körperlicher Gewalt und deren Hilfsmitteln keinen Erfolg versprechen und damit der Gebrauch von anderen Waffen (Hiebwaffen und Schusswaffen) vermieden werden kann. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist zu beachten.
Quelle: http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/17/053/1705345.pdf. Das ist: Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abg. Ströbele u.a. zu Polizeieinsätzen bei Protesten gegen Castortransporte, Bundestagsdrucksache 17/5345 Frage Nr. 22.
Möchte die Polizei wirklich behaupten, sie habe vor der Alternative „Schießen oder Sprühen“ gestanden?
[…] Bürgerrechtsorganisation Demobeobachtung-Südwest prangerte in ihrem Bericht über die Demonstration die „unnötige Gewaltanwendung der Stuttgarter Polizei“ heftig an und stellt die Frage: […]