Pressemitteilung – Oberverwaltungsgericht bestätigt: Personalienfeststellung von Demobeobachtern war rechtswidrig

Der 1. Senat des Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat am 11. August 2022 die Zulassung auf Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 10. November 2021 – 5 K 2034/20 abgelehnt. Damit hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Stuttgart bestätigt. Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Was war geschehen?

Zwei Mitglieder der Bürgerrechtsorganisation Demobeobachtung Südwest, einer Organisation, die sich für die Stärkung eines weit gefassten Demonstrationsrechts einsetzt, hatten am 25.5.2019 eine Demonstration „Solidarität mit den Hungerstreikenden“ (in der Türkei) beobachtet. Nach deren Ende waren sie einer Gruppe junger Leute gefolgt, in der Annahme, es könne sich um Menschen handeln, die eben an der Demonstration teilgenommen hatten. Diese waren im Anschluss von der Polizei „gekesselt“ worden.

Obwohl die beiden klar als Demobeobachter erkennbar waren (durch Westen mit entspr. Aufdruck) und ihre Beobachtung vorher schriftlich angekündigt hatten, wurden sie wie die umschlossenen jungen Leute einer Personalienfeststellung sowie Durchsuchung unterzogen, da sie – so die Polizei – ihre Beobachterrolle verlassen und sich mit den Umschlossenen solidarisiert hätten.

Dagegen hatten die Mitglieder von Demobeobachtung Südwest Klage vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart erhoben und in erster Instanz gewonnen.

Dieses Urteil wollte die Polizei nicht akzeptieren und beantragte vor dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Mannheim Zulassung der Berufung. Diese Zulassung wurde verweigert.

Das Verwaltungsgericht Stuttgart hatte geurteilt: „Es wird festgestellt, dass die Feststellung der Personalien des Klägers, seine Durchsuchung und die seines Rucksackes sowie die Anfertigung der Filmaufnahmen von ihm nach der Einkesselung am 25.05.2019 rechtswidrig erfolgten. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens“.

Worauf kam es an?

Die polizeilichen Maßnahmen wären rechtmäßig gewesen, wenn die beiden Störer oder „Anscheinstörer“ gewesen wären, d.h. solche Menschen, die zu Beginn bei einem fähigen, besonnenen und sachkundigen Polizeibeamten den Eindruck der Gefahrverursachung erweckt hätten (o. gen. Urteil S. 10). Die beiden Demobeobachter waren also keine Störer, noch nicht einmal Anscheinstörer.

Wir freuen uns, dass die zwei Klagen erfolgreich waren. Wir sehen unseren Anspruch auf repressionsfreie Beobachtung von Polizeihandeln in und um Demonstrationen dadurch klar bestätigt. – so Bernhard Höll, einer der beiden Kläger. Die Polizei kann Beobachter:innen nicht unabhängig von ihrem Verhalten als Anscheinstörer deklarieren und erkennungsdienstlich behandeln. Konrad Nestle ergänzt: In erfreulicher Klarheit räumt die Polizei implizit ein, dass es nicht nur um ‚Störungen‘ geht, sondern dass die Polizei das Ziel verfolgt [habe], weitere Störungen durch Demobeobachter bei Personenkontrollen zu verhindern‘ (so das Urteil – S. 5 – in der Zusammenfassung der Klagebegründung der Polizei). Die Personalienfeststellung sollte also abschreckend wirken.

 

Relevante Links

https://anwaltskanzlei-adam.de/2022/08/15/verwaltungsgerichtshof-baden-wuerttemberg-beschluss-vom-11-08-2022-az-vgh-1-s-326-22/

https://demobeobachtung-suedwest.de/blog/2022/03/07/sieg-vor-dem-stuttgarter-verwaltungsgericht/

https://anwaltskanzlei-adam.de/2022/01/24/verwaltungsgericht-stuttgart-urteil-vom-10-11-2021-az-5-k-2033-20/

https://demobeobachtung-suedwest.de/blog/2019/06/14/demo-solidaritaet-mit-den-hungerstreikenden-in-stuttgart-am-25-5-2019/

Pressemitteilung: Demonstrationsbeobachtungsgruppen koordinieren bundesweit rechtliche Schritte gegen Behinderung ihrer Arbeit

Mit insgesamt fünf Klagen zu vier Geschehnissen gehen Demonstrations- und Polizeibeobachtungsgruppen aktuell gegen die zunehmende Behinderung ihrer Arbeit durch Polizeieinsatzkräfte vor.
Verwaltungsgerichtliche Klageverfahren wurden vor den Verwaltungsgerichten in Stuttgart, Karlsruhe, Göttingen und Kassel erhoben.
Die fünf Klägerinnen und Kläger im Alter von 32 bis 76 Jahren machen geltend, im Zusammenhang mit der Beobachtung von verschiedenen Polizeieinsätzen in ihrer Arbeit behindert worden zu sein.
Ein Demobeobachter der Gruppe „Demobeobachtung Südwest“ filmte am 11.05.2019 in Pforzheim Rangeleien und Schlagstockeinsätze durch Bundespolizisten gegen eingekesselte Demonstrationsteilnehmer.
Mit der Behauptung, dass es sich nicht um Demonstrationsteilnehmer sondern um Straftäter handele, unterbanden die Polizeieinsatzkräfte das Filmen, nahmen die Personalien des Beobachters auf und erteilten ihm einen Platzverweis.
Am 24.05.2019 verfügten Polizeibeamte der Göttinger Polizeidirektion eine Personalienfeststellung gegenüber einer Beobachterin der Göttinger Gruppe „Bürgerinnen und Bürger beobachten Polizei und Justiz“. Die 32-jährige hatte polizeiliche Maßnahmen gegenüber Teilnehmern einer fridays for future-Demonstration in Göttingen dokumentiert. Zwei weitere Kläger der Gruppe „Demobeobachtung Südwest“ waren nur einen Tag später, am 25.05.2019 trotz ihrer Kennzeichnung als Demonstrationsbeobachter durch die Einsatzkräfte in Stuttgart nach einer Versammlung zu Versammlungsteilnehmern erklärt, festgehalten, fotografiert und ihre Daten in Polizeidatenbanken gespeichert worden. Am 20.07.2019 dokumentierte ein Mitglied der Göttinger Gruppe „Bürgerinnen und Bürger beobachten Polizei und Justiz“ polizeiliche Maßnahmen gegenüber Demonstrierenden vor dem Gebäude des Polizeipräsidiums Nordhessen in Kassel.
Unter Androhung der Beschlagnahme der Kamera wurde der 53-jährige Polizeibeobachter gezwungen, die Dokumentation zu beenden und seine Personalien an die Beamten herauszugeben.
Mit Beschluss vom 25.07.2015 hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) unter dem Az. 1 BvR 2501/13 die Rechte der unabhängigen Demonstrations- und Polizeibeobachtung gestärkt. Hiernach besteht das Recht, frei von staatlichen Eingriffen wie Personalienfeststellungen oder Platzverweisen das Verhalten von Polizeikräften im Zusammenhang mit Versammlungen zu beobachten und ggf. Beweise für Fehlverhalten von Polizeibeamten auch in Bild und Ton zu dokumentieren.
Im November letzten Jahres trafen sich Polizei- und Demobeobachtungsgruppen aus Berlin, Baden-Württemberg, Niedersachsen und NRW zu einem bundesweiten Vernetzungstreffen. Sie weisen entschieden die stetigen Zunahmen der Einschränkungen ihrer wichtigen Arbeit zurück.
Ihre Arbeit sei für einen Rechtsstaat unerlässlich, da unrechtmäßiges Polizeihandeln regelmäßig nur durch Vorlegen von Filmaufnahmen gerichtlich verfolgt und aufgeklärt wird.
„Die beklagten Maßnahmen sind nur Beispiele für eine zunehmende Praxis von Polizeieinsatzkräften, in Widerspruch zu der Entscheidung des BVerfG unser Recht auf eine unabhängige Beobachtung zu beschränken“ kritisiert Roland Laich von der Gruppe „Bürgerinnen und Bürger beobachten Polizei und Justiz“, der die Entscheidung des BVerfG vom 25.07.2015 erstritten hatte, die aktuelle Entwicklung.
Zuletzt hatte auch das Landgericht Kassel mit Beschluss 23.09.2019 (Az.: 2 Qs 111/19) eine Personalienfeststellung für rechtswidrig erklärt, die mit der absurden polizeilichen Begründung erfolgte, die Dokumentation polizeilicher Maßnahmen wäre die Aufzeichnung des vertraulich gesprochenen Wortes und damit eine Straftat nach § 201 StGB. „Offenbar muss der Polizei die Bedeutung der Verfassungsgerichtsentscheidung durch weitere Gerichtsentscheidungen verdeutlicht werden“ so Laich weiter zu dem Grund der weiteren Klageerhebungen.
Kurze Zusammenfassungen der streitigen polizeilichen Maßnahmen befinden sich in der Anlage zu dieser Mitteilung.
Für Rückfragen stehen die Rechtsanwälte Sven Adam, Nils Spörkel und Rasmus Kahlen zur Verfügung, die mit der Klageerhebung beauftragt wurden. Diese können auch Kontakt zu den Klägerinnen und Klägern vermitteln.

PM 1/19: Mannheimer Fridays-For-Future Bußgelder widersprechen Kinderrechtskonvention

Die Bürgerrechtsorganisation „Demobeobachtung Südwest“ sieht die Sanktionen gegen die Eltern von Friday-For-Future-TeilnehmerInnen als Verstoß gegen Artikel 15 der UN-Kinderrechtskonvention, die Deutschland ratifiziert hat und hofft auf gerichtliche Klärung.

Weil ihre Kinder durch die Teilnahme an einer Fridays-For-Future-Versammlung in Mannheim zwei Unterrichtsstunden versäumt haben, hat deren Schule ihren Eltern Bußgeldbescheide über 88.50 Euro ausgestellt. Das Regierungspräsidium Karlsruhe spricht von einer eindeutigen Rechtslage. Dem widerspricht Nero Grünen, Mitbegründer der Bürgerrechtsorganisation Demobeobachtung Südwest.

„Das Recht auf Versammlungsfreiheit für Kinder ist als Artikel 15 Teil der UN-Kinderrechtskonvention“, so Grünen, „Die Schulpflicht kann dieses Kinderrecht nicht verdrängen. Sie bezieht sich historisch auf die Pflicht der Eltern, ihre Kinder statt zur Arbeit zur Schule zu schicken und die Pflicht des Staats, geeignete Schulen kostenlos zur Verfügung zu stellen. Die Kinder hingegen haben ein Recht auf Bildung. Die Schulpflicht dient dem Schutz der Kinder, was hier ins Gegenteil verkehrt wird. Die Kinder können sich frei entscheiden, hier ihrem Recht auf Versammlungsfreiheit Vorrang zu geben. Eltern ein Bußgeld dafür zu erteilen, dass sie nicht versuchen ein Kinderrecht ihrer Kinder aktiv einzuschränken, ist absurd.“

„Ferner ergänzen sich hier Versammlungsfreiheit und Bildung eher, als dass sie konkurrieren, denn ein Besuch der Fridays-For-Future-Versammlungen ist förderlich für die staatsbürgerliche, politische und wissenschaftliche Bildung. Auch diese wichtigen Formen von Bildung müssten die Schulen und das Regierungspräsidium laut Artikel 28 und 29 der UN-Kinderrechtskonvention im Blick haben“, so Grünen weiter. „Eben weil Kinder beispielsweise von ihren Eltern oder der Schule oft fremdbestimmt sind und damit das Recht auf Versammlungsfreiheit Kindern oft erschwert wird, ist dieses Recht explizit als Kinderrecht aufgenommen worden. Wird die Versammlungsfreiheit ihnen nur zugestanden, wenn es den Eltern oder der Schule genehm ist, würde dieses wichtige demokratische Grundrecht für Kinder ausgehöhlt werden“, führt Grünen aus.

„Aufgrund der demographischen Schieflage und des Auswirkungen der Klimakrise auf ihr weiteres Leben sind möglicherweise weitere Kinderrechte berührt“, so Grünen abschließend, „namentlich Artikel 12, die Berücksichtigung des Kinderwillens, welcher sich bis jetzt in den politischen Entscheidungen kaum widerspiegelt, Artikel 17, dem Zugang zu Informationen, welche insbesondere durch die „Scientists for Future“ auf der Versammlungen verbreitet werden, und eben – ironischerweise – Artikel 28 und 29, welche eine qualitativ hochwertige und umfassende Bildung fordern.“

Grünen war Anfang Juli Teilnehmer eines Expertentisches zur Versammlungsfreiheit, welcher von der OSZE in Wien ausgerichtet wurde. Dort wurde auch am Rande über die Fridays-For-Future-Bewegung diskutiert. Einhellige Expertenmeinung war, dass die Kinder das Recht haben sich auch während der Schulzeit friedlich zu versammeln, insbesondere zu Anliegen die ihr Leben tiefgreifend betreffen, wie etwa der Klimakrise. Diese Meinung vertritt insbesondere Anita Danka, unabhängige Rechtsexpertin auf dem Gebiet der Menschenrechte und ehemalige leitende Beraterin für Versammlungsfreiheit bei OSZE/ODIHR (Senior Adviser on Freedom of Peaceful Assembly at OSCE/ODIHR), die auch bei dieser Pressemitteilung geholfen hat.

PM 1/2017 zum Tag der Deutschen Zukunft in Karlsruhe-Durlach

„Die international kritisierte deutsche Praxis, Demonstrationen bevorzugt mit Spezialeinheiten zu begleiten (sog. BFE-Einheiten), hat gestern in Karlsruhe zu massiven Einschränkungen der Versammlungsfreiheit geführt“, so Nero Grünen, der als Beobachter vor Ort war.

„Statt wie andere Länder zunächst lokale reguläre Kräfte der Schutzpolizei zur Versammlungsbegleitung einzusetzen, wurden die Gegendemonstrationen von auf schwierige Festnahmen und Crowd-Control spezialisierten Einheiten aus Baden-Württemberg, Thüringen, Hessen, Niedersachsen und Bayern eng begleitet. Ferner wurden eine Pferdestaffel und Hunde eingesetzt. So wurde ein Klima der Eskalation geschaffen, welches wir so bis jetzt noch nie beobachtet hatten“, so Grünen weiter.

Zur ersten größeren Konfrontation kam es, als eine Polizeisperre einer Gruppe von bis zu eintausend Gegendemonstranten den Weg versperrte.

Hinter der Absperrung [1] befand sich nicht etwa die Route der Partei „Die Rechte“. Das Ziel der Gegendemo war stattdessen eine angemeldete und genehmigte antifaschistische Mahnwache, die etwa 100 Meter entfernt war.

„Wir bezweifeln stark Sinn und Zweck sowie Rechtmäßigkeit dieser Polizeisperre. Da alle weiteren Konflikte hier ihren Ausgang fanden, ist das Klärungsbedürfnis hier besonders hoch“, bemerkt Grünen.

Die Spitze der Demonstration versuchte die PolizistInnen aus dem Weg zu drängen, was zu massivem Einsatz von Schlagstöcken und der potentiell tödlichen Waffe Pfefferspray führte.

Als Reaktion auf diesen Einsatz wurden nach unseren Beobachtungen zwei Böller und wenige teilweise gefüllte Plastikflaschen auf die Polizei geworfen. Auf Seiten der Gegendemonstranten kam es zu dutzenden Verletzten durch Pfefferspray und Schlagstöcke.

Bei diesem Einsatz wurde auch die Pressefreiheit grob missachtet: Journalisten wurde ein Platzverweis erteilt und sie wurden ebenso zurückgedrängt.

Der weitere Verlauf des Tages war davon geprägt, dass BFE-Einheiten immer wieder unerwartet und mit voller Wucht in die Demo drängten, um einzelne Beschuldigte herauszugreifen. Im Zuge dessen kam es zu zahlreichen Konflikten mit vielen weiteren Verletzten.

Ebenso gravierend wirkte ein Polizeieinsatz direkt an der angemeldeten Mahnwache in der Pforzheimer Straße. Dort hatten sich etwa eintausend GegendemonstrantInnen versammelt, um lautstark gegen die Neonazidemonstration zu protestieren, die gerade in Hör- und Sichtweite angekommen war.
Die Polizei vermutete nach eigenen Angaben einen Straftäter in der Menge, weswegen sie mit massivem Einsatz von hinten in die Mahnwache stürmte. Nachdem sich die Einheiten etwas zurückgezogen hatten, wurden vier laut bellende Polizeihunde ohne Maulkorb direkt hinter der Versammlung in Stellung gebracht.

„Unter diesen Umständen war der angemeldete und genehmigte Protest gegen die vorbeilaufende Neonazi-Demonstration nicht mehr möglich.

Im Rahmen des Versammlungsrechts ist das Recht auf Protest in Hör- und Sichtweite der Adressaten besonders geschützt. Eintausend Menschen dieses Grundrecht zu nehmen um einen Verdächtigen festzunehmen ist grob unverhältnismäßig. Mit dieser Begründung könnte fast jede größere Versammlung effektiv verhindert werden“, so Grünen abschließend.

[1] Die durchbrochene Polizeikette befand sich in der Neuensteinstraße unmittelbar vor der Lamprechtstraße. Auf der Lamprechtstraße selbst, die zur Die-Rechte-Demonstration geführt hätte, befand sich zusätzlich eine mit Gittern befestigte Polizeisperre. Die Demonstranten liefen jedoch Richtung Mahnwache weiter durch die Neuensteinstraße, wo sich unmittelbar vor der B3 eine weitere Polizeikette bildete. Dort kam es zu weiteren Auseinandersetzungen, als die Demonstration nicht zur Mahnwache an der B3 durchgelassen wurde.

PM 1/2015: Licht und Schatten – Demobeobachtung Südwest zum Polizeieinsatz in Pforzheim

Die Bürgerrechtsorganisation “Demobeobachtung Südwest” begrüßt es, dass die Polizei in Pforzheim letztendlich Proteste in Hör- und Sichtweite der sog. Fackelmahnwache von Neonazis am 23.02.2015 ermöglicht hat.

„Es stellt sich allerdings die Frage, wieso die Polizei zunächst unter Einsatz von Pfefferspray den Weg auf den Wartberg versperrt hat“, so Nero Grünen, der als Beobachter vor Ort war. Bei den ersten beiden Versuchen verhinderte die Polizei entschieden, dass der Demozug den Gipfel des Berges erreichte, dabei wurden mehrere Demonstrant_innen durch Pfefferspray verletzt. Beim dritten Versuch hingegen konnte der Zug ungehindert passieren.

PM 1/14 Verfassungsschutz prangert Anti-Nazi-Demo in Göppingen zu Unrecht an

„Wir haben die bunte und friedliche Versammlung von ihrem Start bis zur Einkesselung durch die Polizei begleitet. Zu keiner Zeit kam es zu gewaltsamen Handlungen. Die Intention der Menschen war klar erkennbar in Hör- und Sichtweite gegen den Naziaufmarsch zu protestieren und diesen durch eine Blockade zu verkürzen. Solche Aktionen werden nicht nur regelmäßig von führenden Politikern wie Wolfgang Thierse oder Kurt Beck unterstützt, sie werden auch von immer mehr Gerichten als völlig legal angesehen. Sie sind keine Bedrohung für die freiheitlich demokratische Grundordnung, sondern Ausdruck jener Zivilcourage, die Bundespräsident Joachim Gauck immer wieder einfordert“, so Nero Grünen, der als Demobeobachter vor Ort war.

„Bei den nächsten Protesten gegen den bereits angekündigten Naziaufmarsch 2014 in Göppingen wird sich die Polizei bei ihrer Gefahrenprognose unter anderem auf den Verfassungsschutzbericht berufen, welcher sich wiederum auf die ungerechtfertigt hohe Anzahl an Ingewahrsamnahmen gründet. Dieser Zirkelschluss zwischen Polizei und Verfassungsschutz gefährdet das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit der GegnerInnen des Naziaufmarschs“, so Grünen weiter.

„In anderen Städten machen Polizei und Lokalpolitik nicht den Fehler, NazigegnerInnen als Extremisten mit anderem Vorzeichen abzustempeln. In Mainz und Karlsruhe wurden friedliche Blockaden, die das Aufmarschgebiet der Neonazis erheblich einschränkten, von der Lokalpolitik unterstützt und von der Polizei geduldet. Dies führte nicht nur zu einer Stärkung der Versammlungsfreiheit, sondern hatte auch zur Folge, dass es kaum zu Gewalttaten kam, wie sie in Göppingen angeblich fernab der versuchten Massenblockaden geschehen sind. Wir fordern Polizei, Ordnungsamt und die Stadträte Göppingens daher nachdrücklich auf, ihre Strategie zu überdenken und insbesondere friedliche Proteste nicht zu kriminalisieren“, appelliert Grünen abschließend.

Demobeobachtung Südwest ist eine 2013 in Karlsruhe und Stuttgart gegründete unabhängige Bürgerrechtsorganisation, die Polizeieinsätze auf Versammlungen beobachtet und bewertet. Unsere Berichte sollen u.a. JournalistInnen als weitere Quelle dienen und stehen unter demobeobachtung-suedwest.de bereit.

Unseren Bericht zur Göppinger Anti-Nazi-Demo finden Sie hier:
https://demobeobachtung-suedwest.de/2013/10/bericht-ueber-die-demonstrationen-von-nazis-stoppen-gegen-die-nazi-demonstration-in-goeppingen

Der Bundesverfassungsschutzbericht 2013 ist hier zu finden:
http://www.verfassungsschutz.de/embed/vsbericht-2013.pdf (s. Seite 160)

Im kürzlich vorgestellten Landesverfassungsschutzbericht werden ebenfalls die Eingekesselten als gewaltorientierte Linksextremisten bezeichnet (Seite 159):
http://www.verfassungsschutz-bw.de/site/lfv/get/documents/IV.Dachmandant/Datenquelle/PDF/Verfassungsschutzbericht_BW_2013_Pressefassung.pdf

Pressemitteilung zum 12. Oktober 2013 in Göppingen

Am gestrigen Samstag hat die Polizei in Göppingen einen Aufmarsch von Neonazis durch Anwendung roher Gewalt und vermutlich rechtswidrigen Masseningewahrsamnahmen von Neonazigegner*innen durchgesetzt. Gewalt in Form von Schlagstockeinsatz und Pfefferspray wendete die Polizei keinesfalls nur zur Selbstverteidigung an, sondern überwiegend um Nazigegner*Innen vom Aufmarschgebiet der Neonazis fernzuhalten.

Dies erklärt auch die hohe Zahl verletzter Demonstrant*Innen. So haben die Demosanitäter nach eigenen Angaben 64 Patient*Innen behandelt, von denen 49 durch Pfefferspray verletzt wurden. Eine Person erlitt infolge von Pfefferspray einen Asthmaanfall. Mehrere Personen erlitten schwerere Verletzungen.

Wir konnten keinen Fall von Gewalt seitens der Demonstrant*innen beobachten, der diese polizeiliche Gegengewalt erklären könnte. Die Demonstrant*innen hatten im Vorfeld der Demonstration den Konsens gefasst, dass von ihnen keine Eskalation ausgehen sollte.

Selbst wenn dieser Konsens von uns unbeobachtet verletzt worden sein sollte, so können wir zumindest sicher sagen und belegen, dass es im Vorfeld des größten Kessels in der Schlossstraße Ecke Lange Straße keine Gewalt gegeben hat. Das langsame Vorrücken der Antifaschist*innen gegen eine Polizeikette und die anschließenden Versuche, verschiedene Polizeiketten zu umlaufen, wurde von der Polizei zum gewaltsamen Durchbruchsversuch umgedeutet. Abgesehen davon, dass diesem Kessel mit hoher Sicherheit die Rechtsgrundlage fehlte, wurden in ihm in großer Zahl auch Menschen festgehalten, die von der Meile der Demokratie nach strömten und niemals versucht hatten, eine Polizeisperre zu umgehen.

Der Kessel, wie andere Kessel auch, blieb über einen unverhältnismäßig langen Zeitraum bestehen. Toiletten wurden zu spät zur Verfügung gestellt und außerhalb des Kessels aufgestellt, was zu zusätzlichen Verzögerungen führte. Die zahlreich vorhandenen Beamt*innen des AntiKonflikt-Teams mieden die Kessel, obwohl sie gerade hier nötig gewesen wären. So wurden auch zwei Demobeobachter über viele Stunden im Kessel festgehalten, bis ein Kontakt zum Polizeipressesprecher hergestellt werden konnte.

Beim letzten großen Neonaziaufmarsch im Südwesten am 25.05.2013 in Karlsruhe hat die Demobeobachtungsgruppe Südwest die Grundausrichtung des Polizeieinsatzes ausdrücklich gelobt. In Karlsruhe hatte die Polizei ein Deeskalationskonzept und ermöglichte den Gegendemonstrant*innen Protest in Sicht- und Hörreichweite der Adressat*innen. In Göppingen war beides leider Fehlanzeige. Die Demobeobachtungsgruppe Südwest wird ihr umfangreiches Video-, Foto- und Tonmaterial in den nächsten Tagen auswerten und dann einen Bericht auf demobeobachtung-suedwest.de veröffentlichen.