Stadt Stuttgart macht Kundgebung im Bereich des Hauptbahnhofs unmöglich

Vorbemerkung: Grundsätzlich berichten wir hier nur über unsere eigenen Beobachtungen bei Demonstrationen, so dass wir für die Faktentreue des Beobachteten einstehen können. Doch wie geht das bei einer Kundgebung, die gar nicht stattfinden konnte? Wird eine Kundgebung de facto dadurch verhindert, dass die Auflagen überzogene, sachlich nicht gerechtfertigte Bedingungen enthalten, stellt dies eine Einschränkung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit dar. Deshalb folgt hier (v.a. für Nicht-Stuttgarter) eine kurze Einordnung und dann der Bericht des Anmelders.

Wir weisen die Stadt Stuttgart darauf hin, dass zum Grundrecht auf Versammlungsfreiheit auch gehört, dass diese Versammlungen in Hör- und Sichtweite der Adressaten stattfinden können.

Konrad Nestle – Demobeobachtung Südwest

Kundgebung „Solidarität mit den Opfern der israelischen Apartheidpolitik“ in Stuttgart am 29.5.2021 (15:00-17:00 Uhr)

Nachdem sich in den letzten Wochen Konflikte in Israel und den besetzten Gebieten zugespitzt hatten und dann Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen auf Ziele in Israel begann und Israel seinerseits mit massiven militärischen Einsätzen auf Ziele im Gazastreifen mit vielen zivilen Opfern reagierte, kam es u.a. auch in Deutschland zu Solidaritätskundgebungen mit den Palästinensern und auch zu anti-israelischen Demonstrationen, auch vor Synagogen. Wo dabei die Grenze zwischen Kritik am Handeln des Staates Israel einerseits und Antisemitismus andererseits zu ziehen ist, ist keine einfache Frage (und v.a. keine, die wir hier erörtern können). Weil nicht auszuschließen war, dass auch dieser Kundgebung ähnliche Auseinandersetzungen folgen könnten, schien es uns wichtig, da zu sein und hinzuschauen. Da in diesen Auseinandersetzungen die Ausübung des Rechts auf Versammlungen nach Art. 8 GG oft mit den Inhalten (Parolen, Formulierungen auf Schildern u.ä.) in Verbindung gebracht wird, gehen wir mehr als sonst auf diese ein.

Die Veranstalter rechneten nicht mit sehr großem Zulauf: Die Bühne war klein und die Lautsprecheranlage entsprechend dimensioniert. Auf dem Platz waren Kreuze in corona-gerechten Abständen auf dem Pflaster markiert, damit die Teilnehmenden sich entsprechend verteilen konnten. Es kamen wohl kaum mehr als 150 Menschen. Gegner des Anliegens der Kundgebung waren nicht aufgetaucht. Die Polizei war mit ca. 6 Fahrzeugen und dem entspr. Kräften da. Es kam zu keinerlei Konflikten mit den Demonstrierenden.

Diese hatten viele Palästinenserfahnen dabei, es gab Plakate, die die Folgen der israelischen Angriffe auf den Gazastreifen zeigten, die Namen der dabei (lt. Redebeiträgen) getöteten 75 palästinensischen Kindern wurden verlesen. Eine Schauspielerin las Gedichte eines palästinensischen Dichters. Die Redebeiträge stellten die jüngsten Ereignisse einerseits in den Zusammenhang der Nakba und deren Fortsetzung bis heute und sahen die Ursachen auch in der Enttäuschung über die Ergebnislosigkeit des in den 90-er Jahren versuchten Friedensprozesses. Man sah das praktische Verschwinden der politischen Linken aus der israelischen Politik als Grund, warum Palästinenser an einer Lösung des Konflikts verzweifeln. Die Politik des Staates gegenüber arabischen Bewohnern innerhalb und außerhalb des Staatsgebiets wurde als Apartheid bezeichnet. Viele einzelne Teilnehmende hatten eigene Schilder dabei, die auf einem Schild Gerechtigkeit für Palästinenser und Ablehnung von Antisemitismus bekundeten, oder aus den Worten bestanden: „I see humans but no humanity.“ Es gab freilich auch die Parole „free, free, free, from the river to the sea.“

Wir sehen in all dem die glaubhafte Position, staatliches Handeln in Israel und dessen unkritische Unterstützung in Europa zu kritisieren. Den Status der Palästinenser in Israel als „Apartheid“ zu bezeichnen wirft der israelischen Regierung natürlich ethnische Diskriminierung vor; er rückt die Verhältnisse in Israel in die Nähe derer im früheren Südafrika und wirkt so provozierend polemisch. Doch die Kritik an dem rechtlichen und faktischen Status der Palästinenser in Israel und den besetzten Gebieten insgesamt zurückzuweisen, indem man sie antisemitisch nennt, wäre ein Ausdruck der Verweigerung der Diskussion über die Realität.

„Reizgas-Einsatz der Polizei im Fadenkreuz“ – die Stuttgarter Nachrichten berichten

Die Stuttgarter Nachrichten nehmen heute in dem Artikel Reizgas-Einsatz der Polizei im Fadenkreuz auf unseren Bericht Bezug.

Eines der Videos um das es geht haben wir in Zeitlupe und verpixelt auf Youtube gestellt:

Laut Aussage eines Fachanwalts ist dies ein ziemlich eindeutiger Fall von  Körperverletzung im Amt und müsse als Offizialdelikt von der Staatsanwaltschaft aktiv verfolgt werden, auch wenn keine Strafanzeige gestellt wurde.

Laut dem Artikel der Stuttgarter Nachrichten wird nach beiden Seiten ermittelt – wir sind gespannt, ob die Ermittlungen in Richtung der Polizei weiter verfolgt werden.

Der Pressesprecher der Polizei wirft uns vor, Ursache und Wirkung zu vertauschen. Unseren Beobachtungen nach gab es für diesen Pfeffersprayeinsatz keine Ursache. Das Video spricht dabei für sich.

Ferner unterstellt er uns den Versuch, „die Angreifer“ als unschuldig und die Polizei als böse darzustellen. Unklar ist dabei, wen er mit „die Angreifer“ meint. Im Gegensatz zu Teilen der Polizei denken wir nicht in einem Freund-Feind-Schema. Wir erzählen keine Märchen von Guten und Bösen. Wir beobachten sehr differenziert und loben regelmäßig versammlungsfreundliches Verhalten der Polizei. Wenn es einen Anlass zu Polizeimaßnahmen gibt, kritisieren wir diese nicht. Aber darum geht es hier nicht. Die dokumentierten Einsätze von Pfefferspray sind nicht rechtfertigbar, weswegen der Polizeipressesprecher wohl auf Allgemeinplätze ausweicht.

Auch unsere Kritik an der Polizeitaktik ist berechtigt. Die Jagdszenen erinnerten an den schwarzen Donnerstag und waren völlig überzogen wenn man bedenkt, dass die Polizei eben nicht die Teilnehmer der „Demo für Alle“ beschützen musste, sondern eben nur deren Route. Die Demo selbst war noch weit entfernt. Dafür hätten wesentlich mildere Mittel zur Verfügung gestanden.

Abschließend sei noch erwähnt, dass die Anzahl eingesetzter BeamtInnen und deren Montur höchstens etwas mit der Gefahreneinschätzung der Polizei zu tun hat und eben nicht mit der tatsächlichen Gefahr vor Ort.

Clausnitz, die DPolG und die Kennzeichungspflicht

Ein Kommentar von Nero Grünen

Das Video spricht für sich. Es zeigt den Umgang eines Bundespolizisten in Clausnitz mit einem Flüchtlingskind. Der anwesende braune Mob jubelt. Die Stellungnahme im swr des baden-württembergischen Landeschefs der Deutschen Polizeigewerkschaft, Ralf Kusterer, ist Realsatire, wie man sie eigentlich vom Postillon erwarten würde.

Er spielt ein Spiel, das die beiden Polizeigewerkschaften nur zu gut beherrschen: Die Täter-Opfer Umkehr.

Zunächst rechtfertigen die Polizisten die gewaltsame Räumung des Busses mit zwei Argumenten:

Erstens hätte der Junge und andere Flüchtlinge den rechten Mob beleidigt, weswegen es im Übrigen Ermittlungen geben werde. Wem das nicht sauer aufstößt, der möge sich vorstellen, die Polizei hätte nach der Silvesternacht Ermittlungen gegen Frauen aufgenommen, die dem Kölner Silvestermob den Stinkefinger gezeigt haben.

Zweitens wäre ein Rückzug des Flüchtlingsbusses ein Sieg der Rechten gewesen. Das mag sein. Aber manchmal braucht es so einen Sieg, damit Politik, Polizei und Zivilgesellschaft wachgerüttelt werden über die sächsischen Verhältnisse. Jedenfalls ist es abstrus, die Gewalt gegen eine Kind damit rechtfertigen zu wollen, dass man eine politische Botschaft vermitteln wollte.

Kusterer belässt es aber nicht dabei, seine Kollegen in Schutz zu nehmen. Im Wahlkampfmodus nutzt die DPolG eben jede passende und – wie in diesem Fall – auch jede unpassende Gelegenheit, um gegen die Einführung einer Kennzeichnungspflicht zu wettern.

Er behauptet, dieses Grüne Vorhaben sei durch die SPD gestoppt worden. Dabei ist laut Wahl-O-Mat – neben Grünen, Linken und Piraten – auch die SPD für eine Kennzeichnungspflicht. Offensichtlich ist die Einführung also nicht aus Überzeugung unterlassen worden, sondern aus taktischen Gründen – sprich wegen Druck der Polizeigewerkschaften. In diesem Zusammenhang sei an eine andere Pressekonferenz der Berliner DPolG erinnert, bei der ein möglicher Angriff auf Polizisten durch Namenschilder demonstriert wurde. Eine realistisches Szenario – allerdings nur, wenn es sich bei dem Angreifer um Homer Simpson handelt.

Jedenfalls sind laut Herrn Kusterer die Kritik am Einsatz in Clausnitz, die Namens- bzw. Nummernschilder und sogar der unabhängige Polizeibeauftragte alles nur Symptome eines Grundproblems: Das Misstrauen der Polizei gegenüber nehme überhand.

Die Flüchtlinge im Bus von Clausnitz waren also nicht nur Opfer, sondern auch Täter und die Polizisten sind Opfer von Misstrauen, welches von der grün-roten Landesregierung geschürt wird. Alle Parallelen dieses Denkmusters zur paranoiden Weltsicht von Pegida und AFD sind sicher rein zufällig.

Ich frage mich manchmal, ob die PolizistInnen so zufrieden sind mit dem Opferimage, welches die Polizeigewerkschaften in einem bisweilen skurrilen Überbietungswettbewerb öffentlich aufbauen. Warum schwindet wohl der Respekt vor einer Polizei, die sich tatsächlich und im übertragenen Sinne vor Namensschildern fürchtet.

Schließlich offenbart Herr Kusterer noch seine ganz eigene Definition des Gewaltmonopols, indem er es durch den geplanten Polizeibeauftragten geschwächt sieht. Das Gewaltmonopol des Staats richtet sich aber gegen parastaatliche Polizeien, z.B. die sog. Nachbarschaftswachen, die gerade in Mode kommen. Es bedeutet nicht, dass Polizisten nach Gutdünken Gewalt einsetzen dürfen, ohne dass es politische Diskussion und gegebenenfalls gerichtliche Überprüfungen geben darf.

Fast schon unverschämt ist es von Herrn Kusterer, wenn er unmittelbar nach der Geißelung von Kennzeichnungspflicht und Polizeibeauftragtem kund tut, die Polizei stehe für die „Einhaltung der Bürger- und Menschenrechte“. Er kann nicht beides haben. Entweder will er eine obrigkeitsstaatliche Polizei wie in Russland, deren Beamte immer Recht haben, oder er will eine rechtsstaatliche Polizei. Eine der elementaren Bürgerrechte ist es nämlich, exekutives Handeln (also auch Polizeieinsätze) durch die Judikative (also vor Gericht) überprüfen zu lassen. Dies ist aber momentan schwer möglich, denn fast alle Anzeigen gegen PolizistInnen nach Auseinandersetzungen bei Versammlungen werden mit der Begründung eingestellt, die Beschuldigten könnten nicht identifiziert werden.

Fast alle westlichen Demokratien kennen eine Kennzeichnungspflicht (Frankreich, USA, Polen, Spanien,…). Immer mehr Bundesländer führen sie ein. Die anonyme Staatsmacht, die immer recht hat und nicht zu hinterfragen ist, ist ein Relikt aus dem Obrigkeitsstaat.

Redaktioneller Hinweis:

Kommentare geben grundsätzlich die Meinung des jeweiligen Autors und nicht notwendigerweise die abgestimmte Meinung von Demobeobachtung Südwest wieder.