Stuttgart liegt nicht in Baden – Versammlungsleiterin einer Kundgebung zu 30 Tagessätzen verurteilt

Vor einigen Jahren sprach man polemisch zugespitzt von „Stuttgarter Landrecht“, dem S-21-Gegner ganz besonders unterworfen seien. Die Redewendung ist mit den Jahren und Personalwechseln etwas verblasst. Doch ein Prozess über Versammlungen und Kundgebungen in Stuttgart kann immer noch anders verlaufen als z.B. in Karlsruhe, bzw. dort fände er gar nicht erst statt.

Vor dem Amtsgericht Stuttgart wurde der Widerspruch gegen einen Strafbefehl verhandelt: A. soll als Versammlungsleiterin wiederholt und bewusst gegen Auflagen der Versammlungsbescheide verstoßen haben. A. hatte sich am 22.3. und 5.4.2018 kurzfristig bereit erklärt, die Aufgabe der Versammlungsleiterin zu übernehmen, da der eigentliche Versammlungsleiter vom Amt für öffentliche Ordnung abgelehnt bzw. (im 2. Fall) bei der Kundgebung nicht anwesend war. Zweck war der Protest gegen den völkerrechtswidrigen Einmarsch der türkischen Armee in Afrin. Dass dies ein legitimer und moralisch nicht zu beanstandender Grund für Protest war, wurde vom Staatsanwalt und der Richterin ausdrücklich bestätigt.

Den Kern der Verhandlung bildeten die Auflagen, überhaupt der Umstand, dass sie erlassen wurden, und dann ihre Genauigkeit – und die Genauigkeit ihrer Überwachung. Sie gaben u.a. die Fläche, auf der die Kundgebung stattfinden sollte, genau an (ein Teil der Marstallstraße/Ecke Königstraße bzw. am Herzog-Christoph-Denkmal am Schlossplatz, beides in der Stadtmitte von Stuttgart), begrenzten die Lautstärke auf 85 dB und die Dauer der Nutzung von Lautsprechern und Megafon auf drei mal zehn Minuten pro Stunde (die Kundgebungen sollten ortsfest mehrere Stunden dauern), verlangten einen Ordner (bei 30 erwarteten Teilnehmern).

Am besten dokumentiert hatte die Polizei Überschreitungen der Zeit der Lautsprechernutzung (z.T. von nur 2 Minuten). Andere Vorwürfe, z.B. der, die TeilnehmerInnen hätten den Fußgängerverkehr auf der Königstraße beträchtlich behindert, ließen sich angesichts von insgesamt ca. 30 teilnehmenden Menschen und der großen Breite der Königstraße nicht wirklich glaubhaft machen.

All dies spielte für die Verteidigung nur für den Fall eine Rolle, dass die Haupteinwände nicht greifen würden.

Der Verteidiger, Wolfram Treiber aus Karlsruhe, stellte den Kontext her: Ein völkerrechtswidriger Krieg findet statt, Kriegsverbrechen werden begangen, der völkerrechtswidrige Zustand hält bis heute an; die Stuttgarter Kundgebungen waren zwei unter vielen ähnlichen an vielen Orten. Die Auflagen und die strafrechtliche Verfolgung eventueller Verstöße dagegen sind eine unzulässige Beschränkung des Versammlungsrechts nach Art. 8 des Grundgesetzes.

Detaillierte Auflagen bei Versammlungen sind von mehreren Gerichten (z.B. VGH Mannheim) mehrfach als unzulässig abgewiesen worden. Sie schrecken vor der Übernahme einer Versammlungsleitung ab, eben wegen des Risikos, in ein Strafverfahren verwickelt zu werden. Sie schränken, wie das Bundesverfassungsgericht im sog. „Brokdorfurteil“ sinngemäß formulierte, die unmittelbare, ungebändigte Ausübung demokratischer Grundrechte ein. In Freiburg hätten sich, so Treiber, zeitweise kaum noch Menschen gefunden, die bereit waren, bei Kundgebungen die Versammlungsleitung zu übernehmen. Überdies, so die Erfahrung von Treiber im Raum Karlsruhe, verlaufen Kundgebungen konfliktfreier, seit dort Versammlungsbescheide grundsätzlich keine Auflagen mehr enthalten. In eben diesem Sinne werde auch die Polizei ausgebildet und geschult.

Er schlug daher die Einstellung des Verfahrens vor (worauf – nicht überraschend – die Staatsanwaltschaft nicht einging) und plädierte dann nach der Beweisaufnahme auf Freispruch und regte an, man könne vor einer Urteilsfindung beim VGH Auskunft zur Frage von Auflagen einholen. Behelfsweise plädierte er auf Verwarnung mit Strafvorbehalt. Die Auflagen seien unrechtmäßig, und zudem unverhältnismäßig. Die von der Polizei bzw. dem Amt für öffentliche Ordnung vorgebrachten Bedenken hinsichtlich der Störung von Sicherheit und Ordnung hätten, lt. Urteilen der Verwaltungsgerichte, ganz konkret genannt und auf ihre Verhältnismäßigkeit hin geprüft werden müssen.

Das Urteil lautete dann auf 30 Tagessätze und blieb so ein wenig unter dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Es gründete v.a. auf Verstöße gegen die Auflagen bei der ersten Versammlung am 22.3.2018. Diese seien rechtmäßig, da das Recht auf Versammlungsfreiheit gegen andere Rechtsgüter anderer (gemeint waren v.a. Menschen in angrenzenden Geschäften und Passanten) abgewogen werden müssten. Die lange Dauer der Veranstaltung am gleichen Ort rechtfertige die Begrenzung der Lärmbelästigung, die Auflagen seien also verhältnismäßig. Dass Gerichte in anderen Fällen anders entschieden hätten, könne ja an anderen Umständen und räumlichen Gegebenheiten liegen.

Das sind die üblichen Gründe, mit denen Gerichte begründen, warum sie anders entscheiden als andere Gerichte. Der Verteidiger hatte im Verfahren mehrfach angedeutet, dass er gute Chancen sieht, beim VGH ein Urteil zu erreichen, das die Rechtswidrigkeit der Auflagen feststellt und so dem Urteil gegen A. die Basis entzöge.

Ein weiteres Verfahren kostet Nerven, Zeit – und Geld; das ist A.´s – nicht einfache – Entscheidung.

Unabhängig von ihrer Entscheidung ist die Mindeststrafe schon vollstreckt: A. wird sich dieser Erfahrung bewusst sein, wenn gefragt wird: „Wer übernimmt die Leitung der Kundgebung?“

Wie weit eben das vom Amt für öffentliche Ordnung, der Polizei, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht beabsichtigt ist, kann man nicht wissen. Dass die Beteiligten die Folgen ihres Tuns nicht kennen, ist nicht denkbar (schon die Frage wäre eine Beleidigung ihrer Intelligenz). So sind sie Teil des Prozesses der Aushöhlung der Demokratie. Das zu ändern bedürfte ja wahrlich bei weitem keiner Revolution: Man müsste nur so tun, als läge Stuttgart in Baden. Das ist ganz einfach; dass es nicht, geschieht, ist das Ärgernis.

Vergangenes Jahr berichteten wir über die Festnahme eines Menschenrechtlers in der Türkei, dessen Organisation die gleiche Anwendung der Gesetze und Vorschriften gegenüber allen BürgerInnen der Türkei überwacht. Diese Frage der Gleichbehandlung, der staatlichen Neutralität, stellt sich auch hier. Da sich die Polizei normalerweise weder auf Demonstrationen noch auf Fußballspielen, Fastnachtsumzügen oder dergleichen hinstellt und die Länge der Mikrofonnutzung sowie den Schallpegel der Lautsprecher protokolliert, ist hier eine Ungleichbehandlung offensichtlich – zu Lasten der ethnischen Minderheit, die auch in der Türkei diskriminiert wird.