Demo „Solidarität mit den Hungerstreikenden“ in Stuttgart am 25.5.2019

Vorwort

Die angekündigte Solidarität galt Streikenden Gefangenen in der Türkei, die sich für bessere Haftbedingungen insbesondere von Öcalan einsetzten. Der Hungerstreik wurde lt. Pressemeldungen kurz danach auf Bitten Öcalans beendet.

Demonstrationen mit großenteils kurdischen Teilnehmenden finden immer in einem besonderen Spannungsfeld statt. Hier wies der Versammlungsbescheid auf eine, wie die Polizei vermutete, ähnliche Demonstration am 11.3.2018 hin, bei der mit Fahnenstangen auf Polizisten eingeschlagen worden sei. Die so begründeten Auflagen gingen freilich kaum über das Übliche hinaus. Die damalige Demo protestierte gegen den Einmarsch der Türkei in Nordsyrien (Afrin). Es gibt ein 2-Minuten-Video auf YouTube, das tumultartige Szenen, aber keine Gewaltakte einer Seite zeigt, und das u.a. von Unterstützern der türkischen Regierung als richtiges Verhalten gegen die „PKK“ gelobt wird.

Die Stuttgarter Zeitung sah das gelassener und berichtete von 2 Festnahmen wegen 1 Flaschenwurf und 1 Beleidigung. Von verletzten Polizist*innen berichtet sie nicht.Die Polizei bzw. das Amt für öffentliche Ordnung erwarteten laut dem Versammlungsbescheid nun für den 25.5.2019

mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit … bei der jetzigen Versammlung … Straftaten.

Das müssen aber keine Gewalttaten sein, sondern – und darauf verweist der Versammlungsbescheid – können auch Parolen zur Unterstützung verbotener Organisationen wie der PKK oder der YPG sein. Mit diesen Verboten ist es aber nicht so einfach. Selbst wenn Organisationen nicht grundsätzlich verboten sind, aber

mittelbar einer verbotenen Organisation zugerechnet werden können,

seien sie verboten. Nur wenn ihre Kennzeichen eindeutig nicht im Zusammenhang mit der PKK stünden, seien sie zugelassen. Genaue Kriterien zur Abgrenzung dieser Fälle werden nicht angegeben, sind auch kaum möglich. So wird durch diesen Versammlungsbescheid ein Bereich der Unschärfe geschaffen, der Willkür begünstigt.

Demonstrationsverlauf

Die ca. 300 Teilnehmer*innen versammelten sich zu Beginn in der Lautenschlagerstraße. Obwohl die Polizei, wie im Versammlungsbescheid erwähnt, Gewaltbereitschaft erwartete, war kein „Antikonflikt-Team“ anwesend, dafür aber viele mit Bein- und weiterer Panzerung geschützte Einsatzkräfte. Der Demonstrationszug war vorn und hinten von Polizeieinsatzwagen flankiert und wurde augenscheinlich von Anfang an aus einem Fahrzeug heraus videografiert – zumindest war die Kamera auf die Versammlung gerichtet.

Nachdem der Demonstrationszug einige hundert Meter gelaufen war, wurde er (auf der Theodor-Heuss-Straße) eine Weile angehalten, weil verbotene Parolen gerufen worden seien.

Rückfrage der Demobeobachter bei Organisator*innen der Demonstration bezüglich der spezifischen Parolen schaffte brachte keine Klärung, da diesen auch nicht klar war um welche Parolen es sich handeln sollte. Falls sich das auf von uns wahrgenommene“YPG„- Rufe beziehen sollte, ist zu sagen: Immerhin ist die YPG Partner westlicher Truppen im Krieg gegen den IS. Ab diesem Zwischenstopp wurde die Demonstration dauerhaft von beiden Seiten mit mindestens 4 Handkameras gefilmt.

Mitunter wurden Seitenbanner nicht gemäß dem Versammlungsbescheid mit Abstand getragen und eine Zeit lang gab es ein über den Köpfen getragenes Banner, das aber nach einer Durchsage der Demonstrationsleitung entfernt wurde.

Sonst war der Demonstrationsverlauf einschließlich der Abschlusskundgebung und Auflösung der Versammlung kurz nach 16.00 am Stauffenbergplatz ereignislos und vollkommen friedlich. Danach jedoch begann die Polizei, Einzelne zwecks Personalienfeststellung aus den abziehenden Demonstrationsteilnehmer*innen herauszugreifen. Wir beobachteten einen ersten Fall am Alten Schloss.

Die Polizei duldete keine Zuschauer*innen und reagierte mitunter gereizt. Ein Polizist äußerte sich gegenüber einer Gruppe von Demonstrant*innen mit den Worten „Fass mich an und es knallt“. Man duldete wenig später weder Freunde noch Demobeobachter am Ort des Geschehens, auch nicht in einem Abstand weit außer Hörweite.

Es kam dann später mit einigem zeitlichen und räumlichen Abstand zu einem kleinen Kessel unter den Arkaden des Königsbaus an der Bolzstraße. Die Polizei gab bekannt, dass Menschen, die sich ausweisen könnten und wollten, den Kessel verlassen könnten. Die Maßnahme finde statt, weil gegen das Versammlungsgesetz verstoßen worden sei. Einer Demonstrantin, die meinte, ihren Ausweis nicht zeigen zu wollen, wurde mitgeteilt, man würde sie, wenn sie sich nicht ausweisen könne, mit auf die Polizeiwache nehmen. Auch wir Demobeobachter waren in diesen Kessel geraten und wurden wie alle andern nur nach Personalienfeststellung (Foto des Ausweises und Videografieren der Person von vorne und hinten) und Durchsuchen herausgelassen.

Einschätzung

Die Polizei schien, wie beschrieben, an Deeskalation nicht interessiert. Dauerndes Filmen ist nur dann rechtmäßig, wenn Straftaten geschehen oder erkennbar unmittelbar bevorstehen – dies war unserer Beobachtungen nach nicht der Fall. Das dauernde Filmen bei dieser Demo kriminalisierte also die Teilnehmenden von vornherein, wie es eben auch im Versammlungsbescheid ausgesprochen war. Einerseits verzichtete die Polizei darauf, während der Demonstration einzelne ihr Verdächtige aus dem Zug heraus festzunehmen, andererseits waren die nachfolgenden Maßnahmen zur „Personalienfeststellung“ höchst problematisch. Für Beobachter*innen, Freund*innen und wohl auch die Betroffenen selbst war nicht erkennbar, welcher Straftat sie verdächtigt wurden. Obwohl diese Personalienfeststellungen nicht mehr während der Versammlung stattfanden, mussten sie stark abschreckend wirken: Wer mag unter solchen Umständen ohne Bedenken sein Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wahrnehmen? Angesichts der völlig gewaltfreien Demonstration waren sie deutlich unverhältnismäßig. Dass diese Maßnahmen bewusst auch auf Demobeobachter ausgedehnt wurden, erweckt den Eindruck, dass der Polizei Zeugen lästig sind. Das darf in einer Demokratie nicht sein.

Demo „Solidarität mit den Hungerstreikenden“ in Stuttgart am 25.5.2019 – Kurzbericht

Die ca. 300 TeilnehmerInnen versammelten sich zu Beginn in der Lautenschlagerstraße. Obwohl die Polizei (lt. Auflagenbescheid) Gewaltbereitschaft erwartete, war kein „Antikonflikt-Team“ anwesend, dafür aber diverse mit Beinpanzern geschützte Einsatzkräfte. Der Demonstrationszug wurde augenscheinlich von Anfang an aus einem Fahrzeug heraus videografiert. Er wurde (auf der Theodor-Heuss-Straße) eine Weile angehalten, weil verbotene Parolen gerufen worden seien. Falls sich das auf „YPG“- Rufe beziehen sollte, ist zu sagen: Immerhin ist die YPG Partner westlicher Truppen im Krieg gegen den IS. Ab diesem Zwischenstopp wurde die Demonstration dauerhaft von mehreren Seiten mit mindestens 4 Handkameras gefilmt. Mitunter wurden Seitenbanner nicht gemäß dem Auflagenbescheid mit Abstand getragen und eine Zeit lang gab es ein Kopfbanner, welches aber nach einer Durchsage der Demonstrationsleitung entfernt wurde.

Dies waren die einzig durch uns beobachteten, beanstandbaren Vorfälle. Der Demonstrationsverlauf einschließlich der Abschlusskundgebung und Auflösung der Versammlung am Stauffenbergplatz war vollkommen friedlich. Danach jedoch begann die Polizei, Einzelne zwecks Personalienfeststellung aus den abziehenden DemonstrationsteilnehmerInnen herauszugreifen. Es kam zu einem kleinen Kessel unter den Arkaden des Königsbaus an der Bolzstraße. Die Polizei gab bekannt, dass Menschen, die sich ausweisen könnten und wollten, den Kessel verlassen könnten. Die Maßnahme finde statt, weil gegen das Versammlungsgesetz verstoßen worden sei. Auch wir Demobeobachter gerieten in diesen Kessel und wurden wie alle andern nur nach Personalienfeststellung (Foto des Ausweises und Videografieren der Person von vorne und hinten) und Durchsuchen herausgelassen.

Die Polizei schien an Deeskalation nicht interessiert, die Maßnahmen (Kessel, Personalienfeststellung/Durchsuchung), obwohl formal nicht mehr während der Versammlung, wirkten unverhältnismäßig und abschreckend hinsichtlich der Bereitschaft, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wahrzunehmen.

Ein ausführlicherer Bericht folgt.

Stuttgart liegt nicht in Baden – Versammlungsleiterin einer Kundgebung zu 30 Tagessätzen verurteilt

Vor einigen Jahren sprach man polemisch zugespitzt von „Stuttgarter Landrecht“, dem S-21-Gegner ganz besonders unterworfen seien. Die Redewendung ist mit den Jahren und Personalwechseln etwas verblasst. Doch ein Prozess über Versammlungen und Kundgebungen in Stuttgart kann immer noch anders verlaufen als z.B. in Karlsruhe, bzw. dort fände er gar nicht erst statt.

Vor dem Amtsgericht Stuttgart wurde der Widerspruch gegen einen Strafbefehl verhandelt: A. soll als Versammlungsleiterin wiederholt und bewusst gegen Auflagen der Versammlungsbescheide verstoßen haben. A. hatte sich am 22.3. und 5.4.2018 kurzfristig bereit erklärt, die Aufgabe der Versammlungsleiterin zu übernehmen, da der eigentliche Versammlungsleiter vom Amt für öffentliche Ordnung abgelehnt bzw. (im 2. Fall) bei der Kundgebung nicht anwesend war. Zweck war der Protest gegen den völkerrechtswidrigen Einmarsch der türkischen Armee in Afrin. Dass dies ein legitimer und moralisch nicht zu beanstandender Grund für Protest war, wurde vom Staatsanwalt und der Richterin ausdrücklich bestätigt.

Den Kern der Verhandlung bildeten die Auflagen, überhaupt der Umstand, dass sie erlassen wurden, und dann ihre Genauigkeit – und die Genauigkeit ihrer Überwachung. Sie gaben u.a. die Fläche, auf der die Kundgebung stattfinden sollte, genau an (ein Teil der Marstallstraße/Ecke Königstraße bzw. am Herzog-Christoph-Denkmal am Schlossplatz, beides in der Stadtmitte von Stuttgart), begrenzten die Lautstärke auf 85 dB und die Dauer der Nutzung von Lautsprechern und Megafon auf drei mal zehn Minuten pro Stunde (die Kundgebungen sollten ortsfest mehrere Stunden dauern), verlangten einen Ordner (bei 30 erwarteten Teilnehmern).

Am besten dokumentiert hatte die Polizei Überschreitungen der Zeit der Lautsprechernutzung (z.T. von nur 2 Minuten). Andere Vorwürfe, z.B. der, die TeilnehmerInnen hätten den Fußgängerverkehr auf der Königstraße beträchtlich behindert, ließen sich angesichts von insgesamt ca. 30 teilnehmenden Menschen und der großen Breite der Königstraße nicht wirklich glaubhaft machen.

All dies spielte für die Verteidigung nur für den Fall eine Rolle, dass die Haupteinwände nicht greifen würden.

Der Verteidiger, Wolfram Treiber aus Karlsruhe, stellte den Kontext her: Ein völkerrechtswidriger Krieg findet statt, Kriegsverbrechen werden begangen, der völkerrechtswidrige Zustand hält bis heute an; die Stuttgarter Kundgebungen waren zwei unter vielen ähnlichen an vielen Orten. Die Auflagen und die strafrechtliche Verfolgung eventueller Verstöße dagegen sind eine unzulässige Beschränkung des Versammlungsrechts nach Art. 8 des Grundgesetzes.

Detaillierte Auflagen bei Versammlungen sind von mehreren Gerichten (z.B. VGH Mannheim) mehrfach als unzulässig abgewiesen worden. Sie schrecken vor der Übernahme einer Versammlungsleitung ab, eben wegen des Risikos, in ein Strafverfahren verwickelt zu werden. Sie schränken, wie das Bundesverfassungsgericht im sog. „Brokdorfurteil“ sinngemäß formulierte, die unmittelbare, ungebändigte Ausübung demokratischer Grundrechte ein. In Freiburg hätten sich, so Treiber, zeitweise kaum noch Menschen gefunden, die bereit waren, bei Kundgebungen die Versammlungsleitung zu übernehmen. Überdies, so die Erfahrung von Treiber im Raum Karlsruhe, verlaufen Kundgebungen konfliktfreier, seit dort Versammlungsbescheide grundsätzlich keine Auflagen mehr enthalten. In eben diesem Sinne werde auch die Polizei ausgebildet und geschult.

Er schlug daher die Einstellung des Verfahrens vor (worauf – nicht überraschend – die Staatsanwaltschaft nicht einging) und plädierte dann nach der Beweisaufnahme auf Freispruch und regte an, man könne vor einer Urteilsfindung beim VGH Auskunft zur Frage von Auflagen einholen. Behelfsweise plädierte er auf Verwarnung mit Strafvorbehalt. Die Auflagen seien unrechtmäßig, und zudem unverhältnismäßig. Die von der Polizei bzw. dem Amt für öffentliche Ordnung vorgebrachten Bedenken hinsichtlich der Störung von Sicherheit und Ordnung hätten, lt. Urteilen der Verwaltungsgerichte, ganz konkret genannt und auf ihre Verhältnismäßigkeit hin geprüft werden müssen.

Das Urteil lautete dann auf 30 Tagessätze und blieb so ein wenig unter dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Es gründete v.a. auf Verstöße gegen die Auflagen bei der ersten Versammlung am 22.3.2018. Diese seien rechtmäßig, da das Recht auf Versammlungsfreiheit gegen andere Rechtsgüter anderer (gemeint waren v.a. Menschen in angrenzenden Geschäften und Passanten) abgewogen werden müssten. Die lange Dauer der Veranstaltung am gleichen Ort rechtfertige die Begrenzung der Lärmbelästigung, die Auflagen seien also verhältnismäßig. Dass Gerichte in anderen Fällen anders entschieden hätten, könne ja an anderen Umständen und räumlichen Gegebenheiten liegen.

Das sind die üblichen Gründe, mit denen Gerichte begründen, warum sie anders entscheiden als andere Gerichte. Der Verteidiger hatte im Verfahren mehrfach angedeutet, dass er gute Chancen sieht, beim VGH ein Urteil zu erreichen, das die Rechtswidrigkeit der Auflagen feststellt und so dem Urteil gegen A. die Basis entzöge.

Ein weiteres Verfahren kostet Nerven, Zeit – und Geld; das ist A.´s – nicht einfache – Entscheidung.

Unabhängig von ihrer Entscheidung ist die Mindeststrafe schon vollstreckt: A. wird sich dieser Erfahrung bewusst sein, wenn gefragt wird: „Wer übernimmt die Leitung der Kundgebung?“

Wie weit eben das vom Amt für öffentliche Ordnung, der Polizei, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht beabsichtigt ist, kann man nicht wissen. Dass die Beteiligten die Folgen ihres Tuns nicht kennen, ist nicht denkbar (schon die Frage wäre eine Beleidigung ihrer Intelligenz). So sind sie Teil des Prozesses der Aushöhlung der Demokratie. Das zu ändern bedürfte ja wahrlich bei weitem keiner Revolution: Man müsste nur so tun, als läge Stuttgart in Baden. Das ist ganz einfach; dass es nicht, geschieht, ist das Ärgernis.

Vergangenes Jahr berichteten wir über die Festnahme eines Menschenrechtlers in der Türkei, dessen Organisation die gleiche Anwendung der Gesetze und Vorschriften gegenüber allen BürgerInnen der Türkei überwacht. Diese Frage der Gleichbehandlung, der staatlichen Neutralität, stellt sich auch hier. Da sich die Polizei normalerweise weder auf Demonstrationen noch auf Fußballspielen, Fastnachtsumzügen oder dergleichen hinstellt und die Länge der Mikrofonnutzung sowie den Schallpegel der Lautsprecher protokolliert, ist hier eine Ungleichbehandlung offensichtlich – zu Lasten der ethnischen Minderheit, die auch in der Türkei diskriminiert wird.