Stadt Stuttgart macht Kundgebung im Bereich des Hauptbahnhofs unmöglich

Vorbemerkung: Grundsätzlich berichten wir hier nur über unsere eigenen Beobachtungen bei Demonstrationen, so dass wir für die Faktentreue des Beobachteten einstehen können. Doch wie geht das bei einer Kundgebung, die gar nicht stattfinden konnte? Wird eine Kundgebung de facto dadurch verhindert, dass die Auflagen überzogene, sachlich nicht gerechtfertigte Bedingungen enthalten, stellt dies eine Einschränkung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit dar. Deshalb folgt hier (v.a. für Nicht-Stuttgarter) eine kurze Einordnung und dann der Bericht des Anmelders.

Wir weisen die Stadt Stuttgart darauf hin, dass zum Grundrecht auf Versammlungsfreiheit auch gehört, dass diese Versammlungen in Hör- und Sichtweite der Adressaten stattfinden können.

Konrad Nestle – Demobeobachtung Südwest

Erfolg beim Verwaltungsgericht

Zwei Demobeobachter klagten gegen eine erzwungene Personalienfeststellung

Am 10.11.2021 wurde unsere Klage gegen die Stuttgarter Polizei verhandelt. Das Gericht stellte fest, dass die Polizei rechtswidrig handelte, als sie uns nicht aus einem Kessel entließ, sondern uns einer erkennungsdienstlichen Behandlung / Personalienfeststellung mit allem Drum und Dran (nur auf Fingerabdrücke wurde verzichtet) unterzog.
Interessant: Dem Gericht schien an der grundsätzlichen Klärung eines ansonsten nicht sehr spektakulären Vorgangs gelegen zu sein: Die mündliche Verhandlung ging über ca. vier Stunden. Und das, obwohl das Polizeirecht in Baden-Württemberg seither verschärft wurde und die damaligen Geschehnisse heute evtl. anders bewertet werden könnten (vgl. unsere Stellungnahme zum Polizeigesetz vom 26.4.2020.).

Der Urteilstext ist unter https://anwaltskanzlei-adam.de/2022/01/24/verwaltungsgericht-stuttgart-urteil-vom-10-11-2021-az-5-k-2033-20/ in anonymisierter Form einsehbar.

 

Was taten wir und was die Polizei?

Wir beobachteten eine Demo „Solidarität mit den Hungerstreikenden“ am 25.5.2019 (vgl. unseren Bericht). Während der Demo selbst gab es keine Konflikte zwischen der Polizei und uns. Danach aber schon.
Häufig greift die Polizei Menschen auf, die den Ort der Demonstration verlassen, weil sie ihnen Straftaten vorwirft. Deshalb bleiben wir auch nach Ende einer Demo noch da, um zu sehen, ob die Teilnehmer:innen der Demo unbelästigt weggehen können. Wir bekamen nach der Demo mit, dass die Polizei „Vermummte“ in den Königsbaupassagen vermutete, und folgten deshalb rennenden Polizisten dorthin. So gerieten wir in einen Kessel.

Wir wollten den Kessel nach kurzer Zeit verlassen, unter Hinweis auf unsere Rolle als unbeteiligte Beobachter. Dies wurde uns vom Einsatzleiter verweigert. So mussten wir uns abfilmen und bis auf den Geldbeutelinhalt durchsuchen und abtasten lassen.

Das Urteil und seine Gründe

Die Polizei hatte die Personalienfeststellung samt (fast kompletter) erkennungsdienstlichen Behandlung damit gerechtfertigt, dass wir unseren Beobachterstatus verlassen und uns mit den Menschen, die von der Polizei der Gruppe vormals Vermummter (Formulierung der Polizei: „junge gewaltbereite kurdische Szene“[siehe Urteil]) zugerechnet wurde, solidarisiert hätten. Das habe den Verdacht gerechtfertigt, dass wir z.B. Vermummungsmaterial (für andere) in unseren Rucksäcken hätten und dass von uns die gleichen Gefahren ausgingen wie von der Gruppe der Vermummten. Das Gericht stellte fest, dass die polizeilichen Maßnahmen sowohl ggf. der Strafverfolgung als auch der Gefahrenabwehr dienten . Wenn die Polizei vortrug, dass das Videografieren den Zweck hatte, uns „vollständig die Anonymität zu nehmen und so die Möglichkeit strafrechtlicher Verfolgung zu schaffen und dem Kläger [also uns] diese bewusst zu machen“, räumt sie ein, dass es ihr um Einschüchterung ging, und zwar um Einschüchterung von Menschen, die Demobeobachtung machen. (Dass die Prozedur auch entwürdigend ist, braucht ja nicht gesagt zu werden).

Das Gericht stellte fest: Wir waren keine Störer. Das wären wir erst dann gewesen, wenn wir die polizeiliche Arbeit irgendwie konkret behindert hätten. Demobeobachtung ist also legitim, auch nach Art. 5 GG (Meinungsfreiheit und u.a. Freiheit der Berichterstattung). Um diese Feststellung mussten wir auch nicht fürchten.
Es kommt aber nicht nur darauf an, ob wir tatsächlich gestört hatten, sondern mehr darauf, ob wir „bei einem fähigen, besonnenen und sachkundigen Polizeibeamten“ den Eindruck der „Gefahrverursachung“ erweckt haben könnten (ebd.). Das heißt dann „Anscheinsstörer“, ein Begriff, der an den der „Putativnotwehr“ erinnert. Das Gericht bindet die subjektive Wahrnehmung eines Polizisten freilich an die Eigenschaften Fähigkeit, Besonnenheit und Sachkunde (s.o.), die es in diesem Fall nicht als vollumfänglich gegeben sah. Beide Begriffe können freilich durchaus sinnvoll sein.

Gegen die Annahme des (Anschein)störers sprach offenbar auch unser Verhalten während des Kessels und in unserer Berichterstattung über die Demo. Dass die Videoaufnahmen der Polizei zeigten, dass einer der betr. Demobeobachter an der Wand stand und mit niemandem der anderen Eingekesselten auch nur sprach, hätte als klares Indiz gesehen werden müssen, dass wir uns nicht mit der Gruppe solidarisierten. Ebenso der Umstand, dass wir Beobachtungen der Polizei während des Demozugs unwidersprochen wiedergaben (betr. die Art, Banner zu tragen, und Rufe). Kritik an der Polizei stehe dem nicht entgegen.

Berufung

Das Urteil lässt die Frage offen, ob es anders ausgefallen wäre, wenn nach dem inzwischen in Baden-Württemberg gültigen Polizeirecht zu urteilen gewesen wäre.
Trotzdem scheint die Polizei zu glauben, das Urteil könne auch für zukünftige Fälle wichtig sein. Jedenfalls hat sie Berufung eingelegt.

Es bleibt spannend.

Stellungnahme zur Novellierung des Polizeigesetzes

Die Folgende Stellungnahme wurde am 22.4. via Email an die unten gelisteten Adressaten geschickt.

 

An: – Staatsministerium poststelle@stm.bwl.de

 

– Innenministerium poststelle@im.bwl.de

– Fraktionen im LT:

post@gruene.landtag-bw.de

post@cdu.landtag-bw.de

post@fdp.landtag-bw.de

post@spd.landtag-bw.de

22.4.2020

Stellungnahme zur Novellierung des Polizeigesetzes

Bezug: Online-Zeitschrift „IMI-List“ , Nummer 0565, 23. Jahrgang

vgl.: http://www.imi-online.de/2020/04/14/baden-wuerttemberg-verschaerfung-des-polizeigesetzes-waehrend-corona-krise/

 

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann,

sehr geehrter Herr Minister Strobl,

sehr geehrte Damen und Herren,

Wir teilen die Kritik der Informationsstelle Militarisierung (IMI Tübingen) an der Novellierung des baden-württembergischen Polizeigesetzes im Wesentlichen.

Das Vorgehen, diese schon 2019 geplante Verschärfung des Polizeirechts während der „Corona“-Krise umzusetzen, erweckt das ungute Gefühl, dass die Krise mit ihren Einschränkungen von Grundrechten und Öffentlichkeit dazu benutzt wird, Demokratieabbau zu betreiben. Gute Gründe Corona-spezifische Einschränkungen von Freiheitsrechten nicht ausschließlich auf die Pandemie-Zeit zu begrenzen sind für uns leider nicht ersichtlich. Angriffe von Rechts auf die Demokratie sind aber nicht durch ihre Einschränkung zu bekämpfen, bzw. Vermutungen über Missbrauch oder gar Übertreibung der Pandemie sind nicht so zu bekämpfen, sondern nur durch Stärkung der Demokratie. Diese beginnt mit Stärkung der Grundrechte.

Wir möchten besonders hervorheben, welche Befürchtungen entstehen müssen, wenn die Möglichkeiten von Durchsuchungen von Personen und Sachen in und am Rande von Versammlungen (offenbar keineswegs nur bei Großveranstaltungen) so wie geplant erweitert werden. Beispielsweise bei Fußballfans werden sie blanke Wut auslösen. Denn schon bisher empfinden Fans die „Begleitung“ durch die Polizei großenteils als schikanös.

Durch sehr allgemeine, nirgends definierte Rechtsbegriffe wie „Gefährdungsrisiko“ entsteht ein weiter Ermessens-, ja Willkürspielraum zugunsten der Polizei; sie ist bekanntlich nicht bereit, im konkreten Fall über die Berechtigung ihres Ermessens zu diskutieren. Da außerdem die Einschränkung auf „Großveranstaltungen“ z.T. fehlt, werden Gruppen, die sich von der Polizei eher als Gegner denn als ihre Grundrechte praktizierende Bürger und Bewohner behandelt fühlen, sich eher in einem repressiven Staat als in einer liberalen Demokratie fühlen. Das dürfte z.B. für Kurden gelten, denen von der Polizei bereits öfter von vornherein Gewaltbereitschaft zugeschrieben wurde (siehe z.B. https://demobeobachtung-suedwest.de/blog/2019/06/14/demo-solidaritaet-mit-den-hungerstreikenden-in-stuttgart-am-25-5-2019/ ).

Wenn die Art des Zusammenhangs mit der Versammlung für die Frage der Durchsuchung keine Rolle spielen soll, wird jeder Mensch, der stehen bleibt und sehen möchte, was geschieht, mit polizeilichen Maßnahmen rechnen müssen, v.a. der Aufnahme von Personalien, über deren Verwendung er keine Kontrolle mehr hat. Erst recht trifft das zu auf Menschen, die regelmäßig, aus ihrem Engagement für die Grundrechte heraus, Demonstrationsgeschehen beobachten. Diese machen bundesweit häufig die Erfahrung, dass sie – unseres Erachtens: rechtswidrig – in ihrem Engagement für Demokratie behindert werden.

Wir benutzen bewusst nicht die Beteiligungsplattform des Innenministeriums. Diese Form der Beteiligung erscheint uns viel zu dürftig.

Wir fordern alle, den Ministerpräsidenten, die beteiligten Ministerien, die Regierungsfraktionen und die Fraktion der SPD, dazu auf, den Verabschiedungsprozess dieser Gesetzesnovelle, für die wir nicht die geringste Eilbedürftigkeit sehen, abzubrechen. Sofern Freiheitsrechte pandemiebedingt eingeschränkt werden müssen, muss dies auch auf den Pandemiezeitraum begrenzt sein! Das Polizeigesetz braucht eine breite öffentliche Debatte, inkl. von Versammlungen und Demonstrationen. Erst wenn diese wieder möglich ist, kann – und muss – über das Polizeirecht und sein Verhältnis zu den Grundrechten gesprochen werden.

Mit freundlichen Grüßen

Für Demobeobachtung Südwest

Konrad Nestle

Tachenbergstr. 17 70499 Stuttgart

 

Versammlungsfreiheit in Deutschland und der Welt – Teil 1: OSZE-Demobeobachtung

Um den Stand der Versammlungsfreiheit in Deutschland beurteilen zu können, macht es Sinn den Blick zu weiten und sich international auszutauschen. Genau dies haben wir in den letzten vier Jahren betrieben und verarbeiten unsere Erfahrungen nun in einer Artikelserie, die hier mehr oder weniger wöchentlich erscheinen wird.

Von beiden großen übernationalen Organisationen, den Vereinten Nationen (UN) und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), gibt es Leitlinien zum Thema Versammlungsfreiheit. Diese Leitlinien (zu finden hier bzw. hier) gleichen sich sehr stark, weswegen wir nur die aktuellsten Empfehlungen der OSZE ins Deutsche übersetzt haben. Diese Empfehlungen werden ständig aktualisiert, gerade auch unter dem Eindruck des G20-Gipfels in Hamburg. Eine neue Version wird noch dieses Jahr erscheinen und wieder von uns übersetzt werden.

Um sich über die Situation in den verschiedenen Staaten auszutauschen, veranstaltet die OSZE, bzw. deren Unterorganisation ODIHR (Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte), zweijährlich runde Tische, an denen sich die Nichtregierungsorganisationen, die auf dem Gebiet der Versammlungsfreiheit tätig sind, austauschen. An diesem runden Tisch hat „Demobeobachtung Südwest“ bereits zweimal teilgenommen, beim letzten runden Tisch im Dezember 2018 zusammen mit „BürgerInnen beobachten Polizei und Justiz“ aus Göttingen.

Um Indikatoren für den Stand der Versammlungsfreiheit in den Mitgliedsländern zu erarbeiten hat das ODIHR einen ExpertInnenkreis einberufen, zu dem Demobeobachtung Südwest einen Gesandten schickt. Wir arbeiten dabei zusammen mit unseren Partnerorganisationen, insbesondere aus Göttingen und freiheitsfoo aus Hannover.

Mit unserer russischen Partnerorganisation „Moscow Helsinki group“ beginnen wir gerade eine Infrastruktur aufzubauen, um einen Index zur Versammlungsfreiheit, ähnlich dem Index zur Pressefreiheit, auf die Beine zu stellen.

Außer dem Voranbringen internationaler Projekte und besserer Vernetzung steht aber der inhaltliche Austausch im Vordergrund. Dabei hat sich immer wieder gezeigt, dass die gefestigten westeuropäischen Demokratien wie Deutschland, zwar häufig die versammlungsfreundlichere Gesetzgebung haben, dass aber Polizei und Ordnungsamt in der Praxis oft versammlungsfeindlicher gegenüber AnmelderInnen, VersammlungsleiterInnen, DemobeobachterInnen und VersammlungsteilnehmerInnen vorgehen, als beispielsweise in den jungen Demokratien Osteuropas. Insbesondere die Kritikfähigkeit des Polizeiapparats ist in Deutschland kaum vorhanden und es besteht kein auch nur ansatzweise adäquates, unabhängiges System, um Fälle von Polizeigewalt aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Laut ODIHR sind DemobeobachterInnen (assembly observers) elementar zum Schutz der Versammlungsfreiheit und zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit, sie sollten deshalb von Polizei und Ordnungsamt unterstützt und nicht behindert werden. Auch hier sind die Polizeien anderer Staaten deutlich weiter als die deutsche Polizei. Alleine dieses Jahr wurde unsere Arbeit schon zwei mal massiv behindert. Selbst höchstinstanzliche Urteile zu unseren Gunsten scheinen sich nur bedingt auf die Praxis auszuwirken.

Diese Artikelserie, die nach und nach auf unserer Website erscheinen wird, beschäftigt sich damit, wie es in Deutschland um die Versammlungsfreiheit bestellt ist, wenn man den internationalen Vergleich und internationale Empfehlungen bemüht.

Demobeobachtung durch ODIHR

Die OSZE unterstützt nicht nur lokale NGOs, sondern sie führt als einzige internationale Institution selbst Demobeobachtungen durch.

Allerdings hat die OSZE nur dann eine Rechtsgrundlage für Beobachtungsmissionen, wenn ein Ministerialbeschluss des entsprechenden Mitgliedslandes vorliegt. Sobald dieser Beschluss vorliegt und die Finanzierung geklärt ist, führt die OSZE entsprechende Trainings durch, bei denen auch das 2019 neu erschienene Handbuch der OSZE zu Demobeobachtung zum Einsatz kommt.

Über die Art und Weise, wie die BeobachterInnen der OSZE dabei vorgehen, hat die OSZE einen Clip erstellt, welcher in Wien Premiere feierte und welcher jetzt auf youtube veröffentlicht wurde: https://www.youtube.com/watch?v=6z9Og7XblkE

Die erklärte Herangehensweise deckt sich mit unserer eigenen. Vorurteilsfrei und objektiv zu beobachten, Beobachtungen und Schlussfolgerungen voneinander abzugrenzen und nicht in das Geschehen einzugreifen, sind die wohl wichtigsten Grundpfeiler einer Demobeobachtung.

Die OSZE-BeobachterInnen setzen ebenfalls auf Warnwesten, allerdings in gelb (was sich wegen der Gelbwestenbewegung in Frankreich ändern wird), mit der Aufschrift „Observer“, um von den TeilnehmerInnen der Versammlung abgrenzbar zu sein. Wie wir stoßen die OSZE-BeobachterInnen auf unterschiedliche Level von Akzeptanz und Kooperationsbereitschaft bei den eingesetzten PolizistInnen.

Genau wie bei uns liegt der Schwerpunkt der OSZE-Beobachtung auf den die Versammlung begleitenden Polizeieinsätzen und genau wie wir dokumentieren OSZE-BeobachterInnen auch Versammlungen, bei denen es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt. Hier liegt der Schwerpunkt der OSZE auf den eingesetzten Einsatzmitteln (z.B. Pfefferspray) und der Verhältnismäßigkeit.

Die deutsche Polizei geht unserer Erfahrung nach oft fälschlicherweise davon aus, dass eine Demonstration entweder insgesamt als friedlich oder als gewalttätig eingestuft werden kann und dass sobald ihrer Meinung nach Straftaten begangen worden sind, das Versammlungsrecht für alle TeilnehmerInnen verwirkt ist und auch wir DemobeobachterInnen abzuziehen hätten. Dies haben wir in Wien problematisiert und natürlich bestand der Konsens, dass man es sich so einfach nicht machen könne und das natürlich und gerade wenn es zu Konflikten und Gewalt kommt, Demobeobachtung sinnvoll und nötig ist.

Im zweiten Teil der Artikelserie wird es um „accountability“ gehen, also darum mit welchen Mechanismen einzelne PolizistInnen im Falle von Polizeigewalt und die Einsatzführung bei verwaltungsrechtswidrigen Einsätzen zur Rechenschaft gezogen werden können – ein Bereich in dem Deutschland im Vergleich besonders schlecht abschneidet.

Ein Prozess als Strafe – Fortsetzung

Ordnungshaft statt Wahrheitsfindung

Der 2. Prozesstermin endete mit Tumult, Saalräumung und Ordnungshaft für die Angeklagte. Zur Aufklärung des Sachverhalts, nämlich was die Angeklagte am 16.11.2017 tat und ob dieses Tun rechtswidrig war, trug die Verhandlung rein gar nichts bei.

Es geht um die Fortsetzung des am 28.3. vertagten Prozesses am Amtsgericht Heilbronn am 11.4.19 (ab 12.30).
Die äußeren Umstände waren wie beim ersten Termin: Genaue Taschenkontrolle und Abtasten. Wieder 6 Justizbeamt*innen im Raum bei weniger als 20 Besuchern. Wieder kein*e Protokollant*in.
Die Verhandlung drehte sich zunächst wieder um Ablehnungsbescheide des Richters gegen Anträge der Angeklagten auf Zulassung eines Verteidigers (auch eine neu beantragte Zulassung von Hanna Poddig, an anderen Gerichten durchaus zugelassen, war abgewiesen worden) und zur Befangenheit des Richters. Wieder war dann die Angeklagte ohne Rechtsbeistand, nach längerer Auseinandersetzung durfte eine betreuende Begleitperson neben ihr sitzen. Ein anderer Begleiter wurde des Saales verwiesen, weil der Richter dessen Mimik als kritisch empfand.

Die Angeklagte erhielt Gelegenheit, zu den Zeugenaussagen der vorigen Sitzung Stellung zu nehmen. Sie legte dar, dass die demonstrierenden Schwimmer*innen sich Ufernähe befunden hätten, dass mehrere die gleichen Neoprenanzüge mit den gleichen Streifen getragen hätten, also die Angeklagte auf Fotos nicht sicher zu identifizieren sei, dass der Neckar zur fraglichen Zeit für den sonstigen Schiffsverkehr gesperrt gewesen sei, die Schwimmer*innen also keine Gefahr für andere bedeutet hätten. Der Transport sei an ihnen vorbeigefahren, als sie noch im Wasser waren. Sie wiederholte, dass Demo-Auflagen als das mildere Mittel gegenüber einer Versammlungsauflösung leicht möglich gewesen wären und dass die Auflösungsverfügung selbst unnötig gewesen sei, da die Versammlung sich nach Passieren des Castortransports sowieso aufgelöst hätte.
Die Angeklagte stellte eine Reihe von Beweisanträgen und verlangte die Ladung von Zeugen, um diese Sachverhalte zu belegen. Sie verwies auf Urteile, die zeigen, dass an eine Versammlungsauflösung hohe Anforderungen zu stellen sind. In ihrem Fall sei sie rechtswidrig gewesen, also auch der darauf beruhende Bußgeldbescheid.
Sie verlangte ferner die Ladung weiterer Zeugen und Akten, die zeigen würden, dass die Angeklagte misshandelt wurde, als sie zur Personalienfeststellung gebracht wurde.
Außerdem stellte sie mehrere Anträge mit dem Ziel, vor Gericht darzulegen, dass der fragliche Castortransport und Atomenergie allgemein eine Gefahr für die Bevölkerung darstellten. Sie hätten die Ladung vieler weiterer Zeugen bedeutet, u.a. die eines Tepco Managers oder der Bundeskanzlerin (als ehemalige Umweltministerin); der Umfang der Anträge umfasste so insgesamt mehrere Dutzend Seiten.
Nach einer ca. 25-minütigen Pause erklärte der Richter, er sei von der Glaubwürdigkeit der am 1. Verhandlungstermin gehörten Zeugen überzeugt. Er lehnte alle Anträge summarisch ab, da sie nur der Prozessverschleppung dienten. Sicher hatte auch die Angeklagte nicht damit gerechnet, dass der Prozess ausgesetzt würde, bis ein Zeuge aus Japan geladen werden könnte. Die Mischung von Anträgen, die sich auf die Gefahren der Atomkraft bezogen, mit solchen, die das Geschehen am Neckar am 16.11.2017 klären sollten, erleichterte es dem Richter, die entscheidende Frage der Rechtmäßigkeit der Versammlungsauflösung und damit des umstrittenen Bußgeldbescheids zu ignorieren.
Mit der Ablehnung der Anträge erklärte er, die Beweisaufnahme sei somit geschlossen. Die Angeklagte protestierte, verlangte eine Pause um ihren Antrag zur Wiedereröffnung der Beweisaufnahme zu formulieren, dies wurde abgelehnt. Der Richter erteilte der Angeklagten das Wort für ihre abschließende Stellungnahme.
Auf ihren fortgesetzten Protest reagierte er mit einer Ordnungsstrafe von 300 €. Nach kurzer Pause forderte er die Angeklagte erneut auf, die Gelegenheit zum letzten Wort zu nutzen. Sie entgegnete mit Vorwürfen wegen der Verhandlungsführung und verlangte eine 30-minütige Pause zur Vorbereitung ihres Plädoyers. Dies wurde ihr verweigert, worauf sie erregt protestierte, der Richter ignoriere ihre gesundheitliche Beeinträchtigungen, und dabei derb formulierte. Darauf schloss der Richter sie von der Verhandlung aus, verließ den Raum, die Angeklagte sandte ihm ein „Kikeriki“ hinterher, darauf kehrte der Richter zurück und ordnete sofort zu vollziehende Ordnungshaft (3 Tage) an. Im Publikum hatte sich Protest erhoben, der Richter verwies zunächst Einzelne des Raumes, es wurde dann aber einfach der Saal geräumt, die Polizei zwang alle Besucher und Prozessbeteiligte kurz darauf, auch das Gebäude zu verlassen. Ein Prozessbesucher versuchte die Szene vor dem Amtsgericht zu fotografieren, wurde sofort von 2 Beamten um den Hals gepackt und sein Handy wurde ihm weggenommen. Er protestierte – und hatte nach einiger Zeit Erfolg.
Die Angeklagte war inzwischen, von ihren Betreuern getrennt, ins Polizeipräsidium gebracht worden. Sie solle ins Gefängniskrankenhaus Hohenasperg gebracht werden, hieß es, das erschien dann unsicher (kein Platz dort?) Noch eine Stunde später war unklar, was mit ihr geschehen sollte.
Wann und vor welcher Öffentlichkeit ein Urteil verkündet wird, blieb ebenso offen. Die „Heilbronner Stimme“ berichtet, der Richter habe die Geldbuße in seinem Urteil von 150 auf 100 Euro reduziert. Dies sei durch den Gerichtssprecher Thomas Abt mitgeteilt worden (https://www.stimme.de/heilbronn/nachrichten/region/Richter-verhaengt-Ordnungshaft-gegen-Umweltaktivistin;art140897,4181056). Von einer öffentlichen Urteilsverkündung ist nichts bekannt (nach StPO § 268 kann dies auch später geschehen).

Die Eskalation der Situation im Gerichtssaal war spätestens mit der Erklärung, dass die Beweisaufnahme abgeschlossen sei, absehbar – und der Richter hatte für die Situation der Räumung mit den erwähnten 6 Beamt*innen im Raum vorgesorgt. Seine übergroße Empfindlichkeit gegen noch die leisesten Andeutungen von Störungen war nicht geeignet, die Würde des Gerichts zu wahren. Eine Klärung von anhängigen Rechtsfragen im wichtigen Bereich des Versammlungsrechts, um dies in diesem Verfahren eigentlich hätte gehen sollen, kam nicht zustande.

Aktualisierung vom 10.5.2019: Zu diesem Prozess gab es am 8.5.2019 noch einen Bericht in der Kontext Wochenzeitung.

Ein Prozess als Strafe

Aktivistin in Heilbronn wegen Protest gegen Castortransport angeklagt

Es war in mancher Hinsicht kein üblicher Prozess, nicht die Form des Protests, der Anlass war, nicht die Person der Angeklagten und die Art ihrer Verteidigung, und auch nicht die Führung des Prozesses durch den Richter.

Angeklagt war eine in vielen Bereichen engagierte Aktivistin, weil sie gegen einen Bußgeldbescheid Einspruch erhoben hatte. Der Vorwurf: Sie habe sich nicht aus einer zuvor von der Polizei aufgelösten Versammlung entfernt. Dabei war es um Protest gegen einen Castortransport auf dem Neckar bei Heilbronn am 16.11.2017 gegangen. Neben einer Mahnwache am Ufer hatten Aktivisten aufblasbare Quader, Fässer und Schwimmenten vorbereitet, um sie auf dem Wasser zu einer symbolischen Behinderungsaktion gegen den Schiffstransport zu verwenden. Außerdem schwammen einige Menschen im Wasser. Die Polizei löste die Versammlung auf, stellte die Personalien der Beteiligten fest und es ergingen danach Bußgeldbescheide.
Die Angeklagte weist auf ihrem Blog auf den Prozess hin: http://blog.eichhoernchen.fr/post/Schwimmaktion-gegen-Neckar-Castor-in-Heilbronn-vor-Gericht
Nicht unwichtig ist, dass es vor demselben Gericht und demselben Richter in anderer Sache schon früher einen Prozess gegen die Angeklagte gegeben hat, der offenbar tumultuös endete. Unterstützer*innen berichten u.a., der Richter (Reißer) habe sie keine Anträge stellen lassen und sich geweigert, ihre Beanstandung dazu zu protokollieren, er habe ferner Beweisanträge, einen Antrag auf Zulassung eines Verteidigers nach § 138 (2) StPO und einen Befangenheitsantrag nicht angenommen, so dass sie sich ausschließlich selbst verteidigen musste.

Befremdlich beim jetzigen Prozess war, dass – bei maximal 20 mit der Angeklagten sympathisierenden Besucher*innen – während der ganzen Verhandlung immer mindestens 6 Justizbeamte im Raum und weitere in den Fluren davor waren; ein Staatsanwalt/eine Staatsanwältin dagegen war nicht da, auch niemand, der/die Protokoll führte.

Der Richter versuchte, das Verfahren zu eröffnen und dabei einen dem Gericht vorher schriftlich vorgelegten Befangenheitsantrag zu ignorieren. Es ging u.a. wieder um die der Angeklagten äußerst kurzfristig mitgeteilte Ablehnung ihrer Wahlverteidiger (zu ihrem Konzept einer politischen Prozessführung gehört offenbar die Unterstützung von verfahrenskundigen, selbst in der Sache engagierten Laien). Auf Einspruch unterbrach der Richter das Verfahren bis zur – erwartbaren – Ablehnung des Befangenheitsantrags. Das Gericht hätte die Befürchtung der Befangenheit leicht im Wege der Geschäftsverteilung vermeiden können. Das hätte das Verfahren für alle Beteiligten erleichtert. Dass kein anderer Richter zur Verfügung gestanden habe, war keine plausible Begründung.

Die Angeklagte beantragte nun einen Anwesenden als Verteidiger. Auch dieser Antrag wurde abgelehnt: der Betreffende sei aus dem früheren Verfahren als „querulierender Zuschauer“ bekannt und außerdem nicht hinreichend rechtskundig und die Angeklagte könne sich ja auch selbst verteidigen, da sie das auch für andere mache. Der Verlauf des Verfahrens sollte zeigen, dass das Grundrecht auf Wahlverteidiger nicht umsonst besteht.

Nun wurde der Bußgeldbescheid (über 150 €) verlesen: Sie habe sich nach Auflösung der Versammlung nicht sofort aus dieser entfernt. Die Angeklagte beantragte erneut, einen Anwesenden als Verteidiger zuzulassen. Auch dieser wurde abgelehnt; seine Eignung sei nicht sofort überprüfbar. Es folgte ein neuer Befangenheitsantrag, Beanstandung der Verhandlungsführung (keine ordentliche Protokollierung) und Ablehnung von beidem durch den Richter.

Die Angeklagte äußerte sich sich nicht zur Sache, da sie dem Gericht nicht vertraue. Es gebe ein Video, das zeige, wie sie zur Personalienfeststellung gebracht wurde, in den Gerichtsakten fehlten davon aber ca. 30 Sekunden, die zeigen würden, wie sie trotz ihres Hinweises auf ihre Gehbehinderung so weggebracht wurde, dass sie erhebliche Schmerzen hatte. Ferner kritisierte sie, das Gericht habe sich bei den Ermittlungen nicht um Entlastendes bemüht: Es sei nichts in den Akten, was darauf hinweise, dass der Versammlung Auflagen gemacht wurden (als im Vergleich zur Auflösung milderes Mittel), dass also bezweifelt werden müsse, ob die Auflösung rechtmäßig gewesen sei. Wenn das aber so sei, sei es auch keine Ordnungswidrigkeit gewesen, sich nicht zu entfernen.

Die Beweisaufnahme wurde dann aufgenommen. Zunächst wurde eine Zeugin des Ordnungsamts befragt. Es wurde nicht in Frage gestellt, dass es sich an und im Wasser um eine Versammlung gehandelt hatte. Die Schwimmer*innen hätten aber zu ihrer eigenen Sicherheit und um den Castor-Transport zu ermöglichen aus dem Wasser geholt werden müssen. Dazu sei die Versammlung aufgelöst, die Schwimmer*innen ans Ufer gedrängt und dann zur Personalienfeststellung gebracht worden. Davon, dass der Transport nennenswert behindert worden wäre, sagte sie nichts. Sie bestätigte, dass es keine Auflagen gegeben habe. Ob die Auflösung formal korrekt war (Wortlaut, Hörbarkeit, Wiederholung), wurde nicht festgestellt. Nachdem der Transport den Ort des Protests passiert hatte, hätte sich die Versammlung sowieso aufgelöst.

Die Angeklagte wollte an diesem Punkt Auskunft über die Zeitplanung des Verfahrens. Sie ist auf ihren Rollstuhl angewiesen, braucht daher eine Einstiegshilfe der Deutschen Bahn und muss diese jeweils anmelden. Das Problem wurde nicht geklärt, sondern mit der Zeugenvernehmung fortgefahren.

Der 2. Zeuge, Leiter des Einsatzabschnitts, wurde über die Beendigung der Versammlung und die Personalienfeststellung befragt. Es ergab sich im Wesentlichen dasselbe Bild wie bei der ersten Zeugin. Der Angeklagten ging es v.a. um die Dokumentation ihrer Festnahme und darum, wer für die Speicherung und ggf. Bearbeitung der Foto- und Videomaterialien verantwortlich war. Der verantwortliche Beamte war zum einen als Zeuge geladen, zum andern hatte die Angeklagte Anzeige gegen ihn erstattet, wegen der von ihr vermuteten, oben erwähnten Lücke im dokumentierenden Video. Der Richter teilte mit, der Zeuge sei (a) erkrankt und seine Ladung sei (b) nicht sinnvoll, da er wegen der Anzeige wohl nicht aussagen werde. Außerdem seien weitere Zeugen nicht erforderlich. Die Angeklagte bestand auf der Ladung, gerade wegen ihres Vorwurfs der Körperverletzung (vgl. o.), die Ablehnung durch den Richter veranlasste sie zu einem weiteren Befangenheitsantrag und der Bitte um eine Pause, um diesen formulieren zu können. Dieser wurde stattgegeben.

30 Minuten, bevor die Angeklagte am Bahnhof sein sollte, wurde die Verhandlung fortgesetzt. Der Antrag schien nicht vollständig formuliert und begründet zu sein. Das Video sollte ihre Misshandlung durch die Polizei zeigen, das sei mindestens bei der Strafzumessung relevant. Schließlich erklärte die Angeklagte, sichtlich am Ende ihrer Kräfte, sie sei verhandlungsunfähig.

So musste der Tag mit einer Vertagung enden.

Fragen des Versammlungsrechts, des Rechts auf angemessene Verteidigung, das Konzept der Verteidigung durch andere als juristisch vollständig ausgebildete, zugelassene Rechtsanwälte, das Recht der Angeklagten auf ein Verfahren, in dem ihre Behinderung ihr keine Nachteile bringt, all dies verschränkte sich auf schlimme Art in diesem Verfahren. Und: Die physische und psychische Belastung durch die Summe all dessen war zu viel für einen Prozesstag. Der Richter hätte das weit früher erkennen können und müssen. Man sollte sich klar machen: Hier wehrte sich jemand gegen einen Bußgeldbescheid, weil sie nicht zügig einer Aufforderung der Polizei gefolgt sei, bei einer Protestaktion, die sowieso in sehr kurzer Zeit ihr natürliches Ende gefunden hätte, weil das Schiff weitergefahren war und weil bei den damals herrschenden Wassertemperaturen niemand, auch nicht mit Neoprenanzug, noch länger im Wasser hätte bleiben können. „Geringfügige Schuld“ und „mangelndes öffentliches Interesse“ hätten eine einfache Alternative geboten.

Stuttgart liegt nicht in Baden – Versammlungsleiterin einer Kundgebung zu 30 Tagessätzen verurteilt

Vor einigen Jahren sprach man polemisch zugespitzt von „Stuttgarter Landrecht“, dem S-21-Gegner ganz besonders unterworfen seien. Die Redewendung ist mit den Jahren und Personalwechseln etwas verblasst. Doch ein Prozess über Versammlungen und Kundgebungen in Stuttgart kann immer noch anders verlaufen als z.B. in Karlsruhe, bzw. dort fände er gar nicht erst statt.

Vor dem Amtsgericht Stuttgart wurde der Widerspruch gegen einen Strafbefehl verhandelt: A. soll als Versammlungsleiterin wiederholt und bewusst gegen Auflagen der Versammlungsbescheide verstoßen haben. A. hatte sich am 22.3. und 5.4.2018 kurzfristig bereit erklärt, die Aufgabe der Versammlungsleiterin zu übernehmen, da der eigentliche Versammlungsleiter vom Amt für öffentliche Ordnung abgelehnt bzw. (im 2. Fall) bei der Kundgebung nicht anwesend war. Zweck war der Protest gegen den völkerrechtswidrigen Einmarsch der türkischen Armee in Afrin. Dass dies ein legitimer und moralisch nicht zu beanstandender Grund für Protest war, wurde vom Staatsanwalt und der Richterin ausdrücklich bestätigt.

Den Kern der Verhandlung bildeten die Auflagen, überhaupt der Umstand, dass sie erlassen wurden, und dann ihre Genauigkeit – und die Genauigkeit ihrer Überwachung. Sie gaben u.a. die Fläche, auf der die Kundgebung stattfinden sollte, genau an (ein Teil der Marstallstraße/Ecke Königstraße bzw. am Herzog-Christoph-Denkmal am Schlossplatz, beides in der Stadtmitte von Stuttgart), begrenzten die Lautstärke auf 85 dB und die Dauer der Nutzung von Lautsprechern und Megafon auf drei mal zehn Minuten pro Stunde (die Kundgebungen sollten ortsfest mehrere Stunden dauern), verlangten einen Ordner (bei 30 erwarteten Teilnehmern).

Am besten dokumentiert hatte die Polizei Überschreitungen der Zeit der Lautsprechernutzung (z.T. von nur 2 Minuten). Andere Vorwürfe, z.B. der, die TeilnehmerInnen hätten den Fußgängerverkehr auf der Königstraße beträchtlich behindert, ließen sich angesichts von insgesamt ca. 30 teilnehmenden Menschen und der großen Breite der Königstraße nicht wirklich glaubhaft machen.

All dies spielte für die Verteidigung nur für den Fall eine Rolle, dass die Haupteinwände nicht greifen würden.

Der Verteidiger, Wolfram Treiber aus Karlsruhe, stellte den Kontext her: Ein völkerrechtswidriger Krieg findet statt, Kriegsverbrechen werden begangen, der völkerrechtswidrige Zustand hält bis heute an; die Stuttgarter Kundgebungen waren zwei unter vielen ähnlichen an vielen Orten. Die Auflagen und die strafrechtliche Verfolgung eventueller Verstöße dagegen sind eine unzulässige Beschränkung des Versammlungsrechts nach Art. 8 des Grundgesetzes.

Detaillierte Auflagen bei Versammlungen sind von mehreren Gerichten (z.B. VGH Mannheim) mehrfach als unzulässig abgewiesen worden. Sie schrecken vor der Übernahme einer Versammlungsleitung ab, eben wegen des Risikos, in ein Strafverfahren verwickelt zu werden. Sie schränken, wie das Bundesverfassungsgericht im sog. „Brokdorfurteil“ sinngemäß formulierte, die unmittelbare, ungebändigte Ausübung demokratischer Grundrechte ein. In Freiburg hätten sich, so Treiber, zeitweise kaum noch Menschen gefunden, die bereit waren, bei Kundgebungen die Versammlungsleitung zu übernehmen. Überdies, so die Erfahrung von Treiber im Raum Karlsruhe, verlaufen Kundgebungen konfliktfreier, seit dort Versammlungsbescheide grundsätzlich keine Auflagen mehr enthalten. In eben diesem Sinne werde auch die Polizei ausgebildet und geschult.

Er schlug daher die Einstellung des Verfahrens vor (worauf – nicht überraschend – die Staatsanwaltschaft nicht einging) und plädierte dann nach der Beweisaufnahme auf Freispruch und regte an, man könne vor einer Urteilsfindung beim VGH Auskunft zur Frage von Auflagen einholen. Behelfsweise plädierte er auf Verwarnung mit Strafvorbehalt. Die Auflagen seien unrechtmäßig, und zudem unverhältnismäßig. Die von der Polizei bzw. dem Amt für öffentliche Ordnung vorgebrachten Bedenken hinsichtlich der Störung von Sicherheit und Ordnung hätten, lt. Urteilen der Verwaltungsgerichte, ganz konkret genannt und auf ihre Verhältnismäßigkeit hin geprüft werden müssen.

Das Urteil lautete dann auf 30 Tagessätze und blieb so ein wenig unter dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Es gründete v.a. auf Verstöße gegen die Auflagen bei der ersten Versammlung am 22.3.2018. Diese seien rechtmäßig, da das Recht auf Versammlungsfreiheit gegen andere Rechtsgüter anderer (gemeint waren v.a. Menschen in angrenzenden Geschäften und Passanten) abgewogen werden müssten. Die lange Dauer der Veranstaltung am gleichen Ort rechtfertige die Begrenzung der Lärmbelästigung, die Auflagen seien also verhältnismäßig. Dass Gerichte in anderen Fällen anders entschieden hätten, könne ja an anderen Umständen und räumlichen Gegebenheiten liegen.

Das sind die üblichen Gründe, mit denen Gerichte begründen, warum sie anders entscheiden als andere Gerichte. Der Verteidiger hatte im Verfahren mehrfach angedeutet, dass er gute Chancen sieht, beim VGH ein Urteil zu erreichen, das die Rechtswidrigkeit der Auflagen feststellt und so dem Urteil gegen A. die Basis entzöge.

Ein weiteres Verfahren kostet Nerven, Zeit – und Geld; das ist A.´s – nicht einfache – Entscheidung.

Unabhängig von ihrer Entscheidung ist die Mindeststrafe schon vollstreckt: A. wird sich dieser Erfahrung bewusst sein, wenn gefragt wird: „Wer übernimmt die Leitung der Kundgebung?“

Wie weit eben das vom Amt für öffentliche Ordnung, der Polizei, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht beabsichtigt ist, kann man nicht wissen. Dass die Beteiligten die Folgen ihres Tuns nicht kennen, ist nicht denkbar (schon die Frage wäre eine Beleidigung ihrer Intelligenz). So sind sie Teil des Prozesses der Aushöhlung der Demokratie. Das zu ändern bedürfte ja wahrlich bei weitem keiner Revolution: Man müsste nur so tun, als läge Stuttgart in Baden. Das ist ganz einfach; dass es nicht, geschieht, ist das Ärgernis.

Vergangenes Jahr berichteten wir über die Festnahme eines Menschenrechtlers in der Türkei, dessen Organisation die gleiche Anwendung der Gesetze und Vorschriften gegenüber allen BürgerInnen der Türkei überwacht. Diese Frage der Gleichbehandlung, der staatlichen Neutralität, stellt sich auch hier. Da sich die Polizei normalerweise weder auf Demonstrationen noch auf Fußballspielen, Fastnachtsumzügen oder dergleichen hinstellt und die Länge der Mikrofonnutzung sowie den Schallpegel der Lautsprecher protokolliert, ist hier eine Ungleichbehandlung offensichtlich – zu Lasten der ethnischen Minderheit, die auch in der Türkei diskriminiert wird.

Bericht: Proteste gegen AfD-Kundgebung in Stuttgart am 8.12.2018

„Stuttgart gegen Rechts“ und andere Gruppen hatten zu einer Gegenkundgebung und Protesten gegen eine auf dem Kronprinzplatz angekündigten AfD-Kundgebung zum UN-Migrationspakt aufgerufen.

Die Gegenkundgebung auf dem Rotebühlplatz, wenige hundert Meter von der Kundgebung der AfD entfernt, fand ab 12:30 Uhr mit mehreren Hundert TeilnehmerInnen statt. Der Versammlungsort der AfD war für eine massive Absperrung vorbereitet: Hamburger Gitter in zwei Reihen, dazwischen Dutzende von Polizeifahrzeugen und zwei Wasserwerfer. Später wurde auch die Reiterstaffel eingesetzt. Noch vor Beginn der AfD-Kundgebung zogen die meisten TeilnehmerInnen der Gegenkundgebung in einem spontanen Zug dorthin und blieben vor den Absperrgittern stehen. Die Protestierenden versuchten an anderen Stellen näher an die AfD-Kundgebung heranzukommen und später ihren Protest auch bei der Abreise der AfDler hörbar zu machen.

Hieraus entwickelte sich ein wohl für alle, auch die Polizei, unübersichtliches Hin und Her von Gruppen von DemonstrantInnen und der Polizei. Dabei setzte die Polizei allein nach unserer Beobachtung sieben DemonstrantInnen fest, insgesamt mögen es doppelt so viele gewesen sein. Nur in einem Fall konnten wir den Anlass erkennen: Der Versuch, mit einem Transparent die andere Seite der vierspurigen Theodor-Heuss-Straße zu erreichen und so vielleicht den Verkehr zum Halten zu bringen. Dabei wurde starker unmittelbarer Zwang eingesetzt: Ein Polizeibeamter schlug mit der Faust zu, der junge Mann wurde gegen eine Wand geschleudert.

Den GegendemonstrantInnen konnten ihren Protest gegen die AfD und den allgemeinen „Rechtsruck“ hör- und sichtbar zu machen, vor allem der Öffentlichkeit, aber auch den ca. 40-75 (nach Presseberichten) AfD-Anhängern.

Wir kritisieren allerdings insbesondere die Brutalität der Polizisten beim Aufhalten der Demonstranten an der Theodor-Heuss-Straße. Die Situation war zu diesem Zeitpunkt im Allgemeinen entspannt. Es bestand nicht die Gefahr, dass es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Lagern kommen könnte. Ziel der Beamten konnten es also nur gewesen sein, die räumliche Trennung strikt aufrecht zu erhalten und auch keine kleine Gruppe in die Nähe zu lassen, und außerdem dem fließenden Verkehr zu seinem Recht zu verhelfen. Für beide Ziele ist ein Faustschlag nicht zu rechtfertigen, es hätte weitaus mildere Mittel gegeben.

Ob es sich nun um einen gewaltaffinen Beamten handelte, ob er eine politische Botschaft senden wollte oder ob er vielleicht aufgrund eines pauschalen Feindbildes die Situation falsch eingeschätzt hat, jedenfalls haben solche Aktionen für alle DemonstrantInnen gegen Rechts eine einschüchternde Wirkung, ebenso wie die sichtbare Drohung mit Wasserwerfern. Da solche Gewaltausbrüche außerdem geeignet sind, Situationen eskalieren zu lassen, sollte die Stuttgarter Polizei schon aus eigenem Interesse dieses Verhalten ihrer BeamtInnen verhindern.

Zehn wichtige OSZE-Empfehlungen

Vergangene Woche haben wir die OSZE-Empfehlungen zur Versammlungsfreiheit veröffentlicht. Dabei haben wir großen Wert auf eine originalgetreue Übersetzung des Textes wert gelegt. Deswegen möchten wir hier die außer unserer Sicht wichtigsten Punkte noch einmal zusammenfassen:

1. Die Polizei soll DemonstrationsbeobachterInnen anerkennen und aktiv fördern, vor Ort größtmöglichen Zugang ermöglichen deren Befunde und Empfehlungen zur Kenntnis nehmen. Sie soll das Filmen und Fotografieren von polizeilichen Aktionen und individuellen Polizeibeamten erlauben, damit diese Aufzeichnungen gegebenenfalls als Beweismittel und disziplinarischen, verwaltungsrechtlichen oder strafrechtlichen Verfahren verwendet werden können. [69-71]

2. Die Polizei soll sicherstellen, dass die eingesetzten BeamtInnen einfach und eindeutig zu identifizieren sind, auch wenn sie Schutz- oder Spezialausrüstung tragen. [66]

3. Bei Anzeichen von Fehlverhalten oder konkreten Vorwürfen sollten Polizei und Staatsanwaltschaft unverzüglich, effektiv und unparteiisch ermitteln, auch wenn keine Anzeige vorliegt. [64-68]

4. Die Polizei bzw. deren politische Führung und der Gesetzgeber sollen detaillierte Grundsätze zum Filmen von Versammlungen erarbeiten und veröffentlichen. Das Filmen durch PolizistInnen muss kenntlich gemacht werden. Die Aufnahmen müssen gelöscht werden, wenn der Aufnahmegrund nicht länger relevant ist. [60-63]

5. Die Polizeitaktik muss auf Kommunikation, Deeskalation, Verhandlung und Dialog basieren. Sie darf die VersammlungsteilnehmerInnen nicht überraschen. Es müssen umfassende Richtlinien ausgearbeitet und veröffentlicht werden die beschreiben, unter welchen Umständen eine Versammlung aufgelöst wird. Einer freiwilligen Auflösung muss Vorrang gegeben werden, bevor unmittelbarer Zwang angewendet wird. Friedliche Versammlungen sollen nicht aus formalen Gründen aufgelöst werden.[38,55,56,46]

6. VersammlungsteilnehmerInnen dürfen nur in Gewahrsam genommen werden, wenn nachvollziehbare Gründe für den Freiheitsentzug vorliegen. Bei der Festnahme darf nicht auf exzessive Gewalt zurückgegriffen werden.[57]

7. Die Vorschriften zum Gebrauch von unmittelbarem Zwang und Waffen, z.B. Pfefferspray, müssen veröffentlicht werden. Der Einsatz muss notwendig und verhältnismäßig sein.[53,54]

8. Demonstrationen sollen in Hör- und Sichtweite ihrer Adressaten stattfinden können. Dies gilt auch für Gegendemonstrationen, die falls nötig zwar polizeilich getrennt, aber dennoch in gegenseitiger Hör- und Sichtweite stattfinden sollen.[19-24,48-52]

9. Die Ordnungsämter sollen statistisch erfassen, welche Art von Auflagen sie wie oft verhängt haben.[45]

10. Auflagen müssen frühzeitig dem Anmelder mitgeteilt werden, damit dieser den Rechtsweg bestreiten kann. Jede Auflage muss detailliert begründet werden.[14-20, 25-27]

Uns scheinen vier Prinzipien zentral zu sein, die auch die Polizeiexperten beim runden Tisch in Wien betont haben:

1. Jeder Polizist muss persönlich für sein Handeln haftbar sein (Accountability)

2. Polizeiliche Maßnahmen müssen vorhersehbar sein (No-Surprise)

3. Maßnahmen müssen sich möglichst zielgerichtet gegen Störer richten. Sie müssen notwendig und verhältnismäßig sein. Kessel, Masseningewahrsamnahmen und der Einsatz von Pfefferspray dürfen niemals leichtfertig erfolgen. (Proportionality)

4. Versammlungen sollen in Hör- und Sichtweite ihrer Adressaten ermöglicht werden (Sight- and Sound)