Demonstration gegen die Verschärfung des baden-württembergischen Polizeigesetzes

Vorbemerkung

Eine Verschärfung der Polizeigesetze fand und findet in vielen Bundesländern statt. In Baden-Württemberg wurde das Polizeigesetz zuletzt 2017 verschärft. Wir von Demobeobachtung Südwest stehen dem Thema dieser Proteste näher als bei anderen von uns beobachteten Demonstrationen: Auch wir sehen hier eine rechtliche Entwicklung, die u.a. die Wahrnehmung von Grundrechten nach Art. 8 GG in gefährlichem Ausmaß bedroht. Wir berichten genauso objektiv wie sonst, was wir gesehen und gehört haben.

Demonstration gegen die Verschärfung des baden-württembergischen Polizeigesetzes

in Stuttgart am Samstag, 13. 07. 2019, ca. 12.00 – ca. 15.00

Bei der Schlusskundgebung auf dem Schillerplatz in Stuttgart kam es – nach einer bis dahin störungsfrei verlaufenen Demonstration – zu einem starken Polizeieinsatz von ca. 100 behelmten Polizist*innen.

In den Tagen vor der Demonstration wurde zwischen Stadt und Veranstaltern um die Demoroute gerungen. Die letztlich durchgeführte Route konnte nur unter Androhung einer Klage durchgesetzt werden.
Die Demonstration begann um 12:55 nach Auftaktreden in der Lautenschlagerstraße. Die Demonstrant*innen aus vielen Gruppierungen (u.a. Fußballfans) waren zum Protest gegen Überwachung, Polizeibewaffnung zusammengekommen. Polizei war unsichtbar – außer den motorisierten Absperrungen an den Seitenstraßen und außer einiger Dreiergruppen des Antikonflikt-Teams.
Polizeiliches Filmen konnte nicht beobachtet werden. Es gab trotz einiger Rauchkörper u.ä. von jugendlichen Demonstrant*innen keine Beeinträchtigung durch die Polizei. Während der Zwischenkundgebung am Wilhelmsbau löste sich eine kleine Gruppe Demonstrant*innen zu einem Flash Mob heraus, um vor dem GRÜNEN-Büro in der Marienstraße auf deren Mitverantwortung für das Polizeigesetz aufmerksam zu machen. Dabei kam es zu heftigen verbalen Angriffen auf einen Vertreter der GRÜNEN, der an die Tür gekommen war. Ob diese aus der Mitte des kleinen Gruppe von Demonstrant*innen kam, erscheint eher zweifelhaft.
Gegen Ende der Demoroute musste die Polizei wegen eines Hindernisses die Route ändern – akzeptiert, ohne Widerstand seitens der Demonstration.
So fand in Stuttgart ein gut geleiteter, friedlicher Protest auf der Straße statt. Auch die Nähe zu anderen Veranstaltungen, besonders auf dem Marktplatz, erwies sich, anders als von der Stadt bzw. der Polizei befürchtet, als vollkommen unproblematisch. Die samstäglichen Passanten am Rand des Demonstrationszuges konnte man aufmerksam die verteilten Info-Papiere lesen sehen – so soll es sein. Einige Mitbürger*innen am Rand machten Bemerkungen, die ihre haarsträubende Unkenntnis der politischen Verhältnisse kundtaten. Auch deshalb sind Demonstrationen notwendig.
Das Justizministerium, der sog. Prinzenbau an der nordwestlichen Seite des Schillerplatzes, errichtet nach einem Entwurf von Heinrich Schickardt, war Bezugspunkt der Demo. Nachdem die Demonstrant*innen um kurz nach 14:00 den Platz gefüllt hatten, der Lautsprecherwagen in Position vor dem Fruchtkasten stand, versuchte eine Gruppe von Demonstrant*innen anscheinend ihr Großtransparent direkt vor dem Portal des Landesjustizministeriums aufzustellen. Ca. 15 Polizist*innen, die den Eingang des Ministeriums bewachten, hinderte die Gruppe in heftigem Abdrängen, was sich als Druck auf die daneben stehenden Demonstrant*innen auswirkte, so dass ein größerer Gegendruck gegen die abwehrende Polizei entstand – das ‚Gerangel‘ setzte sich mehrere Male fort. Von rechts, aus der Stiftstraße, und von links, aus dem Torbogen vom Schlossplatz her, wurde die Polizei verstärkt; es bildete sich eine Polizeikette über die gesamte Länge des Justizministeriums. Es wurde nun auch gefilmt. Nun drängten weitere Polizist*innen (ca. 25 – 30), aus dem Tordurchlass vom Schlossplatz her kommend, sich mitten in die Demonstration und bildeten eine Kette von der Ecke des Ministeriums bis nahe an das Schillerdenkmal und den Lautsprecherwagen; dazwischen blieb ein schmaler Durchgang frei. Die Demonstrierenden mussten das als Vorbereitung für eine Einkesselung verstehen, protestierten lautstark und wollten sich nicht wegdrängen lassen. Auch vom Lautsprecherwagen wurde die Polizei aufgefordert, die Durchführung der Schlusskundgebung nicht länger zu stören und den Platz zu verlassen. Tatsächlich zog sie sich wieder durch den Toreingang zurück – zu den Mannschaftswagen, die mit BFE markiert waren. Eingekeilt zwischen um die 1000 Demonstrant*innen hätte eine Einkesselung zu dem geführt, was dann beschönigend ein „robuster Einsatz“ genannt wird. So kam es weder zu Schlagstock- noch Pfeffersprayeinsatz.

Ob tatsächlich eine Flasche und 3 Farbbeutel (von denen dann keiner platzte) auf Polizisten geworfen wurden (so die Polizei lt. StZ am 13.7.) oder ob Polizisten bedroht worden sind (Polizei lt. swr vom 13.7.), wissen wir nicht; vom Standpunkt unserer Beobachter aus (näher am Schillerdenkmal als an der Wand des Ministeriums) war nichts Derartiges zu erkennen. Ob also höherwertige Rechtsgüter geschützt werden mussten und geschützt wurden („Situation geklärt“ so lt. StZ), die den massiven Eingriff in den Kundgebungsverlauf rechtfertigen konnten, bleibt also offen.

PM 1/19: Mannheimer Fridays-For-Future Bußgelder widersprechen Kinderrechtskonvention

Die Bürgerrechtsorganisation „Demobeobachtung Südwest“ sieht die Sanktionen gegen die Eltern von Friday-For-Future-TeilnehmerInnen als Verstoß gegen Artikel 15 der UN-Kinderrechtskonvention, die Deutschland ratifiziert hat und hofft auf gerichtliche Klärung.

Weil ihre Kinder durch die Teilnahme an einer Fridays-For-Future-Versammlung in Mannheim zwei Unterrichtsstunden versäumt haben, hat deren Schule ihren Eltern Bußgeldbescheide über 88.50 Euro ausgestellt. Das Regierungspräsidium Karlsruhe spricht von einer eindeutigen Rechtslage. Dem widerspricht Nero Grünen, Mitbegründer der Bürgerrechtsorganisation Demobeobachtung Südwest.

„Das Recht auf Versammlungsfreiheit für Kinder ist als Artikel 15 Teil der UN-Kinderrechtskonvention“, so Grünen, „Die Schulpflicht kann dieses Kinderrecht nicht verdrängen. Sie bezieht sich historisch auf die Pflicht der Eltern, ihre Kinder statt zur Arbeit zur Schule zu schicken und die Pflicht des Staats, geeignete Schulen kostenlos zur Verfügung zu stellen. Die Kinder hingegen haben ein Recht auf Bildung. Die Schulpflicht dient dem Schutz der Kinder, was hier ins Gegenteil verkehrt wird. Die Kinder können sich frei entscheiden, hier ihrem Recht auf Versammlungsfreiheit Vorrang zu geben. Eltern ein Bußgeld dafür zu erteilen, dass sie nicht versuchen ein Kinderrecht ihrer Kinder aktiv einzuschränken, ist absurd.“

„Ferner ergänzen sich hier Versammlungsfreiheit und Bildung eher, als dass sie konkurrieren, denn ein Besuch der Fridays-For-Future-Versammlungen ist förderlich für die staatsbürgerliche, politische und wissenschaftliche Bildung. Auch diese wichtigen Formen von Bildung müssten die Schulen und das Regierungspräsidium laut Artikel 28 und 29 der UN-Kinderrechtskonvention im Blick haben“, so Grünen weiter. „Eben weil Kinder beispielsweise von ihren Eltern oder der Schule oft fremdbestimmt sind und damit das Recht auf Versammlungsfreiheit Kindern oft erschwert wird, ist dieses Recht explizit als Kinderrecht aufgenommen worden. Wird die Versammlungsfreiheit ihnen nur zugestanden, wenn es den Eltern oder der Schule genehm ist, würde dieses wichtige demokratische Grundrecht für Kinder ausgehöhlt werden“, führt Grünen aus.

„Aufgrund der demographischen Schieflage und des Auswirkungen der Klimakrise auf ihr weiteres Leben sind möglicherweise weitere Kinderrechte berührt“, so Grünen abschließend, „namentlich Artikel 12, die Berücksichtigung des Kinderwillens, welcher sich bis jetzt in den politischen Entscheidungen kaum widerspiegelt, Artikel 17, dem Zugang zu Informationen, welche insbesondere durch die „Scientists for Future“ auf der Versammlungen verbreitet werden, und eben – ironischerweise – Artikel 28 und 29, welche eine qualitativ hochwertige und umfassende Bildung fordern.“

Grünen war Anfang Juli Teilnehmer eines Expertentisches zur Versammlungsfreiheit, welcher von der OSZE in Wien ausgerichtet wurde. Dort wurde auch am Rande über die Fridays-For-Future-Bewegung diskutiert. Einhellige Expertenmeinung war, dass die Kinder das Recht haben sich auch während der Schulzeit friedlich zu versammeln, insbesondere zu Anliegen die ihr Leben tiefgreifend betreffen, wie etwa der Klimakrise. Diese Meinung vertritt insbesondere Anita Danka, unabhängige Rechtsexpertin auf dem Gebiet der Menschenrechte und ehemalige leitende Beraterin für Versammlungsfreiheit bei OSZE/ODIHR (Senior Adviser on Freedom of Peaceful Assembly at OSCE/ODIHR), die auch bei dieser Pressemitteilung geholfen hat.

Versammlungsfreiheit in Deutschland und der Welt – Teil 1: OSZE-Demobeobachtung

Um den Stand der Versammlungsfreiheit in Deutschland beurteilen zu können, macht es Sinn den Blick zu weiten und sich international auszutauschen. Genau dies haben wir in den letzten vier Jahren betrieben und verarbeiten unsere Erfahrungen nun in einer Artikelserie, die hier mehr oder weniger wöchentlich erscheinen wird.

Von beiden großen übernationalen Organisationen, den Vereinten Nationen (UN) und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), gibt es Leitlinien zum Thema Versammlungsfreiheit. Diese Leitlinien (zu finden hier bzw. hier) gleichen sich sehr stark, weswegen wir nur die aktuellsten Empfehlungen der OSZE ins Deutsche übersetzt haben. Diese Empfehlungen werden ständig aktualisiert, gerade auch unter dem Eindruck des G20-Gipfels in Hamburg. Eine neue Version wird noch dieses Jahr erscheinen und wieder von uns übersetzt werden.

Um sich über die Situation in den verschiedenen Staaten auszutauschen, veranstaltet die OSZE, bzw. deren Unterorganisation ODIHR (Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte), zweijährlich runde Tische, an denen sich die Nichtregierungsorganisationen, die auf dem Gebiet der Versammlungsfreiheit tätig sind, austauschen. An diesem runden Tisch hat „Demobeobachtung Südwest“ bereits zweimal teilgenommen, beim letzten runden Tisch im Dezember 2018 zusammen mit „BürgerInnen beobachten Polizei und Justiz“ aus Göttingen.

Um Indikatoren für den Stand der Versammlungsfreiheit in den Mitgliedsländern zu erarbeiten hat das ODIHR einen ExpertInnenkreis einberufen, zu dem Demobeobachtung Südwest einen Gesandten schickt. Wir arbeiten dabei zusammen mit unseren Partnerorganisationen, insbesondere aus Göttingen und freiheitsfoo aus Hannover.

Mit unserer russischen Partnerorganisation „Moscow Helsinki group“ beginnen wir gerade eine Infrastruktur aufzubauen, um einen Index zur Versammlungsfreiheit, ähnlich dem Index zur Pressefreiheit, auf die Beine zu stellen.

Außer dem Voranbringen internationaler Projekte und besserer Vernetzung steht aber der inhaltliche Austausch im Vordergrund. Dabei hat sich immer wieder gezeigt, dass die gefestigten westeuropäischen Demokratien wie Deutschland, zwar häufig die versammlungsfreundlichere Gesetzgebung haben, dass aber Polizei und Ordnungsamt in der Praxis oft versammlungsfeindlicher gegenüber AnmelderInnen, VersammlungsleiterInnen, DemobeobachterInnen und VersammlungsteilnehmerInnen vorgehen, als beispielsweise in den jungen Demokratien Osteuropas. Insbesondere die Kritikfähigkeit des Polizeiapparats ist in Deutschland kaum vorhanden und es besteht kein auch nur ansatzweise adäquates, unabhängiges System, um Fälle von Polizeigewalt aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Laut ODIHR sind DemobeobachterInnen (assembly observers) elementar zum Schutz der Versammlungsfreiheit und zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit, sie sollten deshalb von Polizei und Ordnungsamt unterstützt und nicht behindert werden. Auch hier sind die Polizeien anderer Staaten deutlich weiter als die deutsche Polizei. Alleine dieses Jahr wurde unsere Arbeit schon zwei mal massiv behindert. Selbst höchstinstanzliche Urteile zu unseren Gunsten scheinen sich nur bedingt auf die Praxis auszuwirken.

Diese Artikelserie, die nach und nach auf unserer Website erscheinen wird, beschäftigt sich damit, wie es in Deutschland um die Versammlungsfreiheit bestellt ist, wenn man den internationalen Vergleich und internationale Empfehlungen bemüht.

Demobeobachtung durch ODIHR

Die OSZE unterstützt nicht nur lokale NGOs, sondern sie führt als einzige internationale Institution selbst Demobeobachtungen durch.

Allerdings hat die OSZE nur dann eine Rechtsgrundlage für Beobachtungsmissionen, wenn ein Ministerialbeschluss des entsprechenden Mitgliedslandes vorliegt. Sobald dieser Beschluss vorliegt und die Finanzierung geklärt ist, führt die OSZE entsprechende Trainings durch, bei denen auch das 2019 neu erschienene Handbuch der OSZE zu Demobeobachtung zum Einsatz kommt.

Über die Art und Weise, wie die BeobachterInnen der OSZE dabei vorgehen, hat die OSZE einen Clip erstellt, welcher in Wien Premiere feierte und welcher jetzt auf youtube veröffentlicht wurde: https://www.youtube.com/watch?v=6z9Og7XblkE

Die erklärte Herangehensweise deckt sich mit unserer eigenen. Vorurteilsfrei und objektiv zu beobachten, Beobachtungen und Schlussfolgerungen voneinander abzugrenzen und nicht in das Geschehen einzugreifen, sind die wohl wichtigsten Grundpfeiler einer Demobeobachtung.

Die OSZE-BeobachterInnen setzen ebenfalls auf Warnwesten, allerdings in gelb (was sich wegen der Gelbwestenbewegung in Frankreich ändern wird), mit der Aufschrift „Observer“, um von den TeilnehmerInnen der Versammlung abgrenzbar zu sein. Wie wir stoßen die OSZE-BeobachterInnen auf unterschiedliche Level von Akzeptanz und Kooperationsbereitschaft bei den eingesetzten PolizistInnen.

Genau wie bei uns liegt der Schwerpunkt der OSZE-Beobachtung auf den die Versammlung begleitenden Polizeieinsätzen und genau wie wir dokumentieren OSZE-BeobachterInnen auch Versammlungen, bei denen es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt. Hier liegt der Schwerpunkt der OSZE auf den eingesetzten Einsatzmitteln (z.B. Pfefferspray) und der Verhältnismäßigkeit.

Die deutsche Polizei geht unserer Erfahrung nach oft fälschlicherweise davon aus, dass eine Demonstration entweder insgesamt als friedlich oder als gewalttätig eingestuft werden kann und dass sobald ihrer Meinung nach Straftaten begangen worden sind, das Versammlungsrecht für alle TeilnehmerInnen verwirkt ist und auch wir DemobeobachterInnen abzuziehen hätten. Dies haben wir in Wien problematisiert und natürlich bestand der Konsens, dass man es sich so einfach nicht machen könne und das natürlich und gerade wenn es zu Konflikten und Gewalt kommt, Demobeobachtung sinnvoll und nötig ist.

Im zweiten Teil der Artikelserie wird es um „accountability“ gehen, also darum mit welchen Mechanismen einzelne PolizistInnen im Falle von Polizeigewalt und die Einsatzführung bei verwaltungsrechtswidrigen Einsätzen zur Rechenschaft gezogen werden können – ein Bereich in dem Deutschland im Vergleich besonders schlecht abschneidet.

Stuttgart liegt nicht in Baden – Versammlungsleiterin einer Kundgebung zu 30 Tagessätzen verurteilt

Vor einigen Jahren sprach man polemisch zugespitzt von „Stuttgarter Landrecht“, dem S-21-Gegner ganz besonders unterworfen seien. Die Redewendung ist mit den Jahren und Personalwechseln etwas verblasst. Doch ein Prozess über Versammlungen und Kundgebungen in Stuttgart kann immer noch anders verlaufen als z.B. in Karlsruhe, bzw. dort fände er gar nicht erst statt.

Vor dem Amtsgericht Stuttgart wurde der Widerspruch gegen einen Strafbefehl verhandelt: A. soll als Versammlungsleiterin wiederholt und bewusst gegen Auflagen der Versammlungsbescheide verstoßen haben. A. hatte sich am 22.3. und 5.4.2018 kurzfristig bereit erklärt, die Aufgabe der Versammlungsleiterin zu übernehmen, da der eigentliche Versammlungsleiter vom Amt für öffentliche Ordnung abgelehnt bzw. (im 2. Fall) bei der Kundgebung nicht anwesend war. Zweck war der Protest gegen den völkerrechtswidrigen Einmarsch der türkischen Armee in Afrin. Dass dies ein legitimer und moralisch nicht zu beanstandender Grund für Protest war, wurde vom Staatsanwalt und der Richterin ausdrücklich bestätigt.

Den Kern der Verhandlung bildeten die Auflagen, überhaupt der Umstand, dass sie erlassen wurden, und dann ihre Genauigkeit – und die Genauigkeit ihrer Überwachung. Sie gaben u.a. die Fläche, auf der die Kundgebung stattfinden sollte, genau an (ein Teil der Marstallstraße/Ecke Königstraße bzw. am Herzog-Christoph-Denkmal am Schlossplatz, beides in der Stadtmitte von Stuttgart), begrenzten die Lautstärke auf 85 dB und die Dauer der Nutzung von Lautsprechern und Megafon auf drei mal zehn Minuten pro Stunde (die Kundgebungen sollten ortsfest mehrere Stunden dauern), verlangten einen Ordner (bei 30 erwarteten Teilnehmern).

Am besten dokumentiert hatte die Polizei Überschreitungen der Zeit der Lautsprechernutzung (z.T. von nur 2 Minuten). Andere Vorwürfe, z.B. der, die TeilnehmerInnen hätten den Fußgängerverkehr auf der Königstraße beträchtlich behindert, ließen sich angesichts von insgesamt ca. 30 teilnehmenden Menschen und der großen Breite der Königstraße nicht wirklich glaubhaft machen.

All dies spielte für die Verteidigung nur für den Fall eine Rolle, dass die Haupteinwände nicht greifen würden.

Der Verteidiger, Wolfram Treiber aus Karlsruhe, stellte den Kontext her: Ein völkerrechtswidriger Krieg findet statt, Kriegsverbrechen werden begangen, der völkerrechtswidrige Zustand hält bis heute an; die Stuttgarter Kundgebungen waren zwei unter vielen ähnlichen an vielen Orten. Die Auflagen und die strafrechtliche Verfolgung eventueller Verstöße dagegen sind eine unzulässige Beschränkung des Versammlungsrechts nach Art. 8 des Grundgesetzes.

Detaillierte Auflagen bei Versammlungen sind von mehreren Gerichten (z.B. VGH Mannheim) mehrfach als unzulässig abgewiesen worden. Sie schrecken vor der Übernahme einer Versammlungsleitung ab, eben wegen des Risikos, in ein Strafverfahren verwickelt zu werden. Sie schränken, wie das Bundesverfassungsgericht im sog. „Brokdorfurteil“ sinngemäß formulierte, die unmittelbare, ungebändigte Ausübung demokratischer Grundrechte ein. In Freiburg hätten sich, so Treiber, zeitweise kaum noch Menschen gefunden, die bereit waren, bei Kundgebungen die Versammlungsleitung zu übernehmen. Überdies, so die Erfahrung von Treiber im Raum Karlsruhe, verlaufen Kundgebungen konfliktfreier, seit dort Versammlungsbescheide grundsätzlich keine Auflagen mehr enthalten. In eben diesem Sinne werde auch die Polizei ausgebildet und geschult.

Er schlug daher die Einstellung des Verfahrens vor (worauf – nicht überraschend – die Staatsanwaltschaft nicht einging) und plädierte dann nach der Beweisaufnahme auf Freispruch und regte an, man könne vor einer Urteilsfindung beim VGH Auskunft zur Frage von Auflagen einholen. Behelfsweise plädierte er auf Verwarnung mit Strafvorbehalt. Die Auflagen seien unrechtmäßig, und zudem unverhältnismäßig. Die von der Polizei bzw. dem Amt für öffentliche Ordnung vorgebrachten Bedenken hinsichtlich der Störung von Sicherheit und Ordnung hätten, lt. Urteilen der Verwaltungsgerichte, ganz konkret genannt und auf ihre Verhältnismäßigkeit hin geprüft werden müssen.

Das Urteil lautete dann auf 30 Tagessätze und blieb so ein wenig unter dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Es gründete v.a. auf Verstöße gegen die Auflagen bei der ersten Versammlung am 22.3.2018. Diese seien rechtmäßig, da das Recht auf Versammlungsfreiheit gegen andere Rechtsgüter anderer (gemeint waren v.a. Menschen in angrenzenden Geschäften und Passanten) abgewogen werden müssten. Die lange Dauer der Veranstaltung am gleichen Ort rechtfertige die Begrenzung der Lärmbelästigung, die Auflagen seien also verhältnismäßig. Dass Gerichte in anderen Fällen anders entschieden hätten, könne ja an anderen Umständen und räumlichen Gegebenheiten liegen.

Das sind die üblichen Gründe, mit denen Gerichte begründen, warum sie anders entscheiden als andere Gerichte. Der Verteidiger hatte im Verfahren mehrfach angedeutet, dass er gute Chancen sieht, beim VGH ein Urteil zu erreichen, das die Rechtswidrigkeit der Auflagen feststellt und so dem Urteil gegen A. die Basis entzöge.

Ein weiteres Verfahren kostet Nerven, Zeit – und Geld; das ist A.´s – nicht einfache – Entscheidung.

Unabhängig von ihrer Entscheidung ist die Mindeststrafe schon vollstreckt: A. wird sich dieser Erfahrung bewusst sein, wenn gefragt wird: „Wer übernimmt die Leitung der Kundgebung?“

Wie weit eben das vom Amt für öffentliche Ordnung, der Polizei, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht beabsichtigt ist, kann man nicht wissen. Dass die Beteiligten die Folgen ihres Tuns nicht kennen, ist nicht denkbar (schon die Frage wäre eine Beleidigung ihrer Intelligenz). So sind sie Teil des Prozesses der Aushöhlung der Demokratie. Das zu ändern bedürfte ja wahrlich bei weitem keiner Revolution: Man müsste nur so tun, als läge Stuttgart in Baden. Das ist ganz einfach; dass es nicht, geschieht, ist das Ärgernis.

Vergangenes Jahr berichteten wir über die Festnahme eines Menschenrechtlers in der Türkei, dessen Organisation die gleiche Anwendung der Gesetze und Vorschriften gegenüber allen BürgerInnen der Türkei überwacht. Diese Frage der Gleichbehandlung, der staatlichen Neutralität, stellt sich auch hier. Da sich die Polizei normalerweise weder auf Demonstrationen noch auf Fußballspielen, Fastnachtsumzügen oder dergleichen hinstellt und die Länge der Mikrofonnutzung sowie den Schallpegel der Lautsprecher protokolliert, ist hier eine Ungleichbehandlung offensichtlich – zu Lasten der ethnischen Minderheit, die auch in der Türkei diskriminiert wird.

Bericht: Proteste gegen AfD-Kundgebung in Stuttgart am 8.12.2018

„Stuttgart gegen Rechts“ und andere Gruppen hatten zu einer Gegenkundgebung und Protesten gegen eine auf dem Kronprinzplatz angekündigten AfD-Kundgebung zum UN-Migrationspakt aufgerufen.

Die Gegenkundgebung auf dem Rotebühlplatz, wenige hundert Meter von der Kundgebung der AfD entfernt, fand ab 12:30 Uhr mit mehreren Hundert TeilnehmerInnen statt. Der Versammlungsort der AfD war für eine massive Absperrung vorbereitet: Hamburger Gitter in zwei Reihen, dazwischen Dutzende von Polizeifahrzeugen und zwei Wasserwerfer. Später wurde auch die Reiterstaffel eingesetzt. Noch vor Beginn der AfD-Kundgebung zogen die meisten TeilnehmerInnen der Gegenkundgebung in einem spontanen Zug dorthin und blieben vor den Absperrgittern stehen. Die Protestierenden versuchten an anderen Stellen näher an die AfD-Kundgebung heranzukommen und später ihren Protest auch bei der Abreise der AfDler hörbar zu machen.

Hieraus entwickelte sich ein wohl für alle, auch die Polizei, unübersichtliches Hin und Her von Gruppen von DemonstrantInnen und der Polizei. Dabei setzte die Polizei allein nach unserer Beobachtung sieben DemonstrantInnen fest, insgesamt mögen es doppelt so viele gewesen sein. Nur in einem Fall konnten wir den Anlass erkennen: Der Versuch, mit einem Transparent die andere Seite der vierspurigen Theodor-Heuss-Straße zu erreichen und so vielleicht den Verkehr zum Halten zu bringen. Dabei wurde starker unmittelbarer Zwang eingesetzt: Ein Polizeibeamter schlug mit der Faust zu, der junge Mann wurde gegen eine Wand geschleudert.

Den GegendemonstrantInnen konnten ihren Protest gegen die AfD und den allgemeinen „Rechtsruck“ hör- und sichtbar zu machen, vor allem der Öffentlichkeit, aber auch den ca. 40-75 (nach Presseberichten) AfD-Anhängern.

Wir kritisieren allerdings insbesondere die Brutalität der Polizisten beim Aufhalten der Demonstranten an der Theodor-Heuss-Straße. Die Situation war zu diesem Zeitpunkt im Allgemeinen entspannt. Es bestand nicht die Gefahr, dass es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Lagern kommen könnte. Ziel der Beamten konnten es also nur gewesen sein, die räumliche Trennung strikt aufrecht zu erhalten und auch keine kleine Gruppe in die Nähe zu lassen, und außerdem dem fließenden Verkehr zu seinem Recht zu verhelfen. Für beide Ziele ist ein Faustschlag nicht zu rechtfertigen, es hätte weitaus mildere Mittel gegeben.

Ob es sich nun um einen gewaltaffinen Beamten handelte, ob er eine politische Botschaft senden wollte oder ob er vielleicht aufgrund eines pauschalen Feindbildes die Situation falsch eingeschätzt hat, jedenfalls haben solche Aktionen für alle DemonstrantInnen gegen Rechts eine einschüchternde Wirkung, ebenso wie die sichtbare Drohung mit Wasserwerfern. Da solche Gewaltausbrüche außerdem geeignet sind, Situationen eskalieren zu lassen, sollte die Stuttgarter Polizei schon aus eigenem Interesse dieses Verhalten ihrer BeamtInnen verhindern.

Zehn wichtige OSZE-Empfehlungen

Vergangene Woche haben wir die OSZE-Empfehlungen zur Versammlungsfreiheit veröffentlicht. Dabei haben wir großen Wert auf eine originalgetreue Übersetzung des Textes wert gelegt. Deswegen möchten wir hier die außer unserer Sicht wichtigsten Punkte noch einmal zusammenfassen:

1. Die Polizei soll DemonstrationsbeobachterInnen anerkennen und aktiv fördern, vor Ort größtmöglichen Zugang ermöglichen deren Befunde und Empfehlungen zur Kenntnis nehmen. Sie soll das Filmen und Fotografieren von polizeilichen Aktionen und individuellen Polizeibeamten erlauben, damit diese Aufzeichnungen gegebenenfalls als Beweismittel und disziplinarischen, verwaltungsrechtlichen oder strafrechtlichen Verfahren verwendet werden können. [69-71]

2. Die Polizei soll sicherstellen, dass die eingesetzten BeamtInnen einfach und eindeutig zu identifizieren sind, auch wenn sie Schutz- oder Spezialausrüstung tragen. [66]

3. Bei Anzeichen von Fehlverhalten oder konkreten Vorwürfen sollten Polizei und Staatsanwaltschaft unverzüglich, effektiv und unparteiisch ermitteln, auch wenn keine Anzeige vorliegt. [64-68]

4. Die Polizei bzw. deren politische Führung und der Gesetzgeber sollen detaillierte Grundsätze zum Filmen von Versammlungen erarbeiten und veröffentlichen. Das Filmen durch PolizistInnen muss kenntlich gemacht werden. Die Aufnahmen müssen gelöscht werden, wenn der Aufnahmegrund nicht länger relevant ist. [60-63]

5. Die Polizeitaktik muss auf Kommunikation, Deeskalation, Verhandlung und Dialog basieren. Sie darf die VersammlungsteilnehmerInnen nicht überraschen. Es müssen umfassende Richtlinien ausgearbeitet und veröffentlicht werden die beschreiben, unter welchen Umständen eine Versammlung aufgelöst wird. Einer freiwilligen Auflösung muss Vorrang gegeben werden, bevor unmittelbarer Zwang angewendet wird. Friedliche Versammlungen sollen nicht aus formalen Gründen aufgelöst werden.[38,55,56,46]

6. VersammlungsteilnehmerInnen dürfen nur in Gewahrsam genommen werden, wenn nachvollziehbare Gründe für den Freiheitsentzug vorliegen. Bei der Festnahme darf nicht auf exzessive Gewalt zurückgegriffen werden.[57]

7. Die Vorschriften zum Gebrauch von unmittelbarem Zwang und Waffen, z.B. Pfefferspray, müssen veröffentlicht werden. Der Einsatz muss notwendig und verhältnismäßig sein.[53,54]

8. Demonstrationen sollen in Hör- und Sichtweite ihrer Adressaten stattfinden können. Dies gilt auch für Gegendemonstrationen, die falls nötig zwar polizeilich getrennt, aber dennoch in gegenseitiger Hör- und Sichtweite stattfinden sollen.[19-24,48-52]

9. Die Ordnungsämter sollen statistisch erfassen, welche Art von Auflagen sie wie oft verhängt haben.[45]

10. Auflagen müssen frühzeitig dem Anmelder mitgeteilt werden, damit dieser den Rechtsweg bestreiten kann. Jede Auflage muss detailliert begründet werden.[14-20, 25-27]

Uns scheinen vier Prinzipien zentral zu sein, die auch die Polizeiexperten beim runden Tisch in Wien betont haben:

1. Jeder Polizist muss persönlich für sein Handeln haftbar sein (Accountability)

2. Polizeiliche Maßnahmen müssen vorhersehbar sein (No-Surprise)

3. Maßnahmen müssen sich möglichst zielgerichtet gegen Störer richten. Sie müssen notwendig und verhältnismäßig sein. Kessel, Masseningewahrsamnahmen und der Einsatz von Pfefferspray dürfen niemals leichtfertig erfolgen. (Proportionality)

4. Versammlungen sollen in Hör- und Sichtweite ihrer Adressaten ermöglicht werden (Sight- and Sound)